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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder
Autoren: Christian Oehlschläger
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es der jungen Frau auf dem Beifahrersitz. Sie warf ihrem Bruder einen
bitterbösen Blick zu. »Kannst du nicht vorsichtiger fahren?«
    »No me diga« ,
echauffierte sich der Getadelte. »Was kann ich dafür, wenn das blöde Schwein
einfach auf die Straße rennt?« Er gab wieder Gas.
    Sie zog es vor zu schweigen. Um dem
bohrenden Blick ihres Bruders auszuweichen, schaute sie aus dem Seitenfenster.
Mit ihrer rechten Hand hielt sie noch immer das Amulett fest umschlossen.
    Ob ich noch einen letzten Blick auf den
Pico Duarte erhaschen werde?, fragte sie sich, während ihr Blick über die
grasbewachsenen, von der Nachmittagssonne malerisch beschienenen sanften Hügel
gen Süden schweifte. Den Gipfel des Pico Duarte, keine vierzig Kilometer
Luftlinie entfernt und mit stolzen 3.175 Metern über N.N. der höchste Berg der gesamten
Karibik, konnte man bei einigermaßen passablem Wetter von hier aus gut sehen.
    Schon als Kind hatte sie, wenn sie mal ihr
Heimatdorf verließ, um in die nahe Stadt Santiago de los Cabelleros zu fahren,
stets einen Abschiedsgruß zu dem Bergriesen geschickt. Einen Abschiedsgruß in
Form eines kurzen Stoßgebets. Das sollte Glück bringen, hatte ihr schon die
Urgroßmutter gepredigt, für eine unversehrte Rückkehr zu Heimatort und Familie.
    An diesem Nachmittag blieb der Pico Duarte
wolkenverhangen.
    * * *
    »Lassen Sie mich durch!« Kai
Kreinbrinks Stimme überschlug sich. Er hatte sich vor dem Polizisten aufgebaut,
der an dem Absperrband Wache hielt. »Ich muss sie sehen. Sofort!«
    Der uniformierte Ordnungshüter mit dem
Backenbart und den gutmütigen Augen blieb freundlich. »Das geht jetzt nicht«,
sagte er bestimmt. »Zunächst muss die Spurensicherung ihre Arbeit tun.«
    »Das ist mir scheißegal«, giftete der
junge Mann und versuchte, unter dem Flatterband hindurchzukriechen. »Wer sind
Sie denn überhaupt, dass Sie mir Befehle erteilen?«
    Der stämmige Polizist hatte alle Mühe, ihn
zurückzuhalten. Zum Glück halfen ein paar umstehende Waidmänner dabei, den
tobenden Jagdkollegen zu bremsen. Bei dem Tohuwabohu rutschte Kai Kreinbrink
die Büchse von der Schulter und blieb mit dem Riemen in seiner Armbeuge hängen.
Sein Hut ging zu Boden.
    »Passen Sie auf Ihre Waffe auf«, donnerte
der Polizist. »Bei dem Gerangel löst sich wohlmöglich noch ein Schuss.« Er
hatte Kai Kreinbrink an den Schultern gepackt. »Wenn Sie nicht augenblicklich
Ruhe geben, muss ich Sie in Gewahrsam nehmen.«
    »Bleib friedlich, Kai«, rief ein älterer
Herr, der sich einen Weg durch die Umstehenden gebahnt hatte, mit Nachdruck.
»Der Mann tut nur seine Pflicht.«
    Konrad Kreinbrink, der Vater von Kai, war
mit seinem Sohn als Letzter der Jäger am Streckenplatz angelangt. Nach dem
Signal »Hahn in Ruh« hatten sie einen Überläufer nachgesucht, den der Sohn
weidwund geschossen hatte. Die Verletzung war nicht so schwerwiegend gewesen;
die Sau hatte noch einen Kilometer gehen können, bevor sie von einem
Schweißhund gestellt worden war. Nach dem Fangschuss hatten sie das Stück
geborgen, versorgt und zum Streckenplatz gebracht. Dass man dort eine Leiche
gefunden hatte, und dass es sich dabei um ein farbiges Mädchen handeln sollte,
hatten sie erst vor wenigen Minuten erfahren.
    »Und wenn es nun tatsächlich Yadira ist?«,
jammerte Kai Kreinbrink, aus dem plötzlich alle Kraft gewichen schien. »Hat von
Bartling das wirklich so gesagt?«
    Der Vater legte seinen Arm um die
Schultern des Jungen. »Ich fürchte, ja.«
    »Oh mein Gott.« Kai Kreinbrink stöhnte
aufgewühlt. »Die müssen sich täuschen. Die müssen sich täuschen.«
    »Kennen Sie die Tote näher?«, fragte der
Polizist. »Sind Sie vielleicht mit ihr verwandt?«
    »Wenn die Tote Yadira Martinéz aus der
Dominikanischen Republik ist, dann kennen wir sie sehr gut«, erwiderte Konrad
Kreinbrink mit heiserer Stimme. »Sie hat bei uns im Haus gewohnt.«
    »Dann werde ich mal zu dem Hauptkommissar
rübergehen und ihm das sagen. Warten Sie bitte hier. Und geben Sie schön auf
Ihren Sohn acht.«
    Kreinbrink senior nickte, und der Polizist
mit dem Backenbart und den freundlichen Augen entfernte sich mit raschen
Schritten.
    * * *
    »Ein Sexualdelikt?«
    »Kann ich doch jetzt noch nicht
sagen …«, erwiderte Frau Dr. Grote, ohne aufzusehen. »Bisher spricht
nichts dafür. Jedenfalls ist sie vollständig bekleidet.«
    »Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung?«
Mendelski bückte sich zur Pathologin hinab, die neben der Leiche auf dem
Fichtengrün
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