Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
Vom Netzwerk:
kleinen Verbeugung überreichte. Sie verbeugte sich ebenfalls und murmelte die traditionellen Dankesworte. Dann schwiegen sie beide eine Weile.
    »Ich nehme an, ich sollte dich Joey nennen.«
    Ihre Hände zupften nervös an ihren Ärmeln.
    »Du musst jetzt …«, sie rechnete im Kopf rasch nach, »dreiundzwanzig sein. Du siehst … reifer aus.«
    Er lachte. »Älter, meinst du wohl. Das kommt vom Militär. Vom Krieg.«
    Wieder eine Pause.
    Wie stellt man die entscheidende Frage – die zu heikel ist, zu wichtig, um bei einer rührenden Wiederbegegnung nebenbei ausgesprochen zu werden? Joe hatte das Gefühl, dass es sehr unjapanisch wäre, einfach damit herauszuplatzen, die Schicht zersplittern zu lassen, die die Risse in der gesellschaftlichen Fassade verbarg.
    »Ich nehme an, meine Mutter ist gestorben«, platzte er heraus.
    Der im Schatten liegende Bahnsteig hatte sich inzwischen geleert, nur sie beide standen noch da, in das Licht eines einzelnen Sonnenstrahls getaucht. Eine Brise strich über die Gleise, wirbelte Papierfetzen auf und ließ sie durch die Luft schweben wie tanzende Schmetterlinge.
    »Vielleicht tröstet es dich, dass es im Augenblick der Explosion passierte. Sie hat nicht gelitten.«
    »Sie hat nicht gelitten?« Er starrte sie an.
    Sie nahm seinen Arm, als wollte sie ihn daran hindern fortzugehen. »Wenn du das Haus siehst, wirst du es verstehen.«
    Eine Fahrradrikscha beförderte sie durch die Stadt, vorbei an eingestürzten Häusern, geborstenen Wänden und Türen, die ins Nichts verschwundener Räume führten. Die Straße stieg an und ließ den Hafen hinter sich.
    Das natürliche Amphitheater der Stadt lag jetzt zu ihren Füßen. Er sah die Ruine der katholischen Kirche, schwarz, unwirklich, wie eine Skizze für ein richtiges Gebäude, die eingestürzte Kuppel halb unter den Trümmern begraben. Über den Fluss spannte sich eine Steinbrücke, ihre Bögen spiegelten sich im Wasser wie Brillengläser. Verglichen mit dem verwüsteten Tokio war Nagasaki immer noch wiedererkennbar.
    Suzuki hob den Kopf und sah, dass er auf die Stadt hinunterstarrte. Einen Moment betrachtete sie sie mit seinen Augen: Fast schien es, als wäre Nagasaki glimpflich davongekommen. Sie verspürte das Bedürfnis, ein paar Dinge klarzustellen.
    »Einige Gebäude aus Stahl und Beton haben die Druckwelle überstanden, andere wurden von den Hügeln geschützt. Die traditionellen Häuser aus Holz sind verschwunden. Im Umkreis von zwei Kilometern um das Explosionszentrum wurde alles völlig zerstört. Ausgelöscht.«
    Sie berührte seinen Arm und deutete auf die hohen Telefonmasten entlang der Straße: Er sah, dass sie auf der der Explosion zugewandten Seite verkohlt waren.
    »An diesem Tag starben fünfzigtausend Menschen. Und später noch sehr viel mehr. Selbst jetzt geht das Sterben weiter: Die Leute haben Schmerzen, werden krank.«
    Die Rikscha fuhr ächzend bergauf. Wieder berührte Suzuki Joes Arm und deutete auf einen eingefallenen gemauerten Turm, der etwas zurückgesetzt von der Straße stand. Ein angekohltes und verbogenes, praktisch mit dem Stein verschmolzenes Zifferblatt war darauf zu erkennen, die verdrehten Zeiger standen auf 11.02 Uhr.
    »Der Augenblick der Explosion.«
    Später, wenn er besser darauf vorbereitet wäre, würde sie ihm erzählen, wie es gewesen war, als sie an diesem Tag zurückkam.
    Als sie die Mädchen in ihre vorübergehende Unterkunft außerhalb der Stadt brachte, ein Stück die Küste hinunter, hörte sie weit entfernt das Brummen eines Flugzeugs. Sie ging zur Tür und sah zum Himmel, eine Hand über die Augen gelegt: Der Himmel war bedeckt, aber durch einen Riss zwischen den Wolken sah sie ein Gebilde, das in der Ferne wie ein dunkler Fisch durch die Luft glitt. Dann ein Aufleuchten, ein gleißendes Licht, heller als jeder Blitz, und dann das Donnern, ein tiefes Brüllen, das den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ wie bei einem Erdbeben. Die Luft schien sich zu verschieben, etwas strich über sie weg. Dann Stille.
    Als Suzuki die Außenbezirke der Stadt erreichte, konnte sie vor lauter Rauch und Flammen zuerst nichts sehen. Der glühend heiße Wind, der Menschen und Tiere wie Spielzeug durch die Luft wirbelte, tat jedoch noch etwas anderes: Er vertrieb den Rauch. Und dann sah sie, dass alles mit Toten und Sterbenden übersät war. Im Fluss trieben unzählige Leichen, die einen waren von der Druckwelle hineingeschleudert worden, andere waren ins Wasser gekrochen, um die Verbrennungen zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher