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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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begriff, dass er Suzuki in dieser Hinsicht nicht trauen konnte.
    »Gibt es hier noch jemanden, mit dem ich reden könnte, jemanden, der sie gekannt hat?«
    Suzuki dachte einen Moment nach, dann schüttelte sie unschlüssig den Kopf.
    »So viele sind nicht mehr unter uns …«
    Doch plötzlich klatschte sie in die Hände, ihr war etwas eingefallen. » Isha ! «
    »Ein Arzt? Ihr Arzt?«
    »Ja, ja. Viele Jahre lang.«
    »Wo finde ich ihn?«
    Das Gebäude war mehr oder weniger eine Ruine, aber die zerbrochenen Fenster waren vernagelt, die Tür war repariert und der Vorraum ordentlich und sauber. Die Verzweiflung der Leute im Wartezimmer konnte man geradezu mit Händen greifen. Sie kauerten vorsichtig auf Schemeln, saßen zusammengesunken auf Stühlen, einige von ihnen mussten mit dem Boden vorliebnehmen. Sie bewegten sich vorsichtig, manche hatten verbundene Arme, bei anderen waren die Gesichter mit Mull bedeckt. Joe sah mit Brandwunden und entzündeten Stellen übersäte Haut. Die Patienten gaben keinen Laut von sich, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie Schmerzen hatten.
    Er überragte sie alle, wie in Tule Lake. Aber schlimmer noch: Hier stach er auch dadurch hervor, dass er gesund war, keine Verletzungen und Verbände hatte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern vor dem Fenster sah er geschmolzenes Metall, geborstene Wände und eine verbrannte Stadt – die Wahrheit, die bestätigte, was Oppenheimer bei der ersten Zündung seiner Erfindung gesagt hatte: Jetzt bin ich der Tod geworden, Zerstörer der Welten …
    Nach ein paar Minuten hörte er die Sprechstundenhilfe seinen Namen aufrufen.
    »Da sind erst noch andere vor mir dran«, wandte er ein.
    »Sie sind ein Besucher, bitte gehen Sie durch. Doktor Sat ō wird Sie jetzt empfangen.«
    In der Tür zum Sprechzimmer blieb Joe stehen. Der untersetzte grauhaarige Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich und machte eine Verbeugung.
    »Guten Morgen. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten.« Ein kaum hörbarer amerikanischer Akzent.
    »Ich habe ein schlechtes Gewissen«, sagte Joe, »weil ich mich vordränge. Sie haben heute viel zu tun.«
    »Ich habe jeden Tag viel zu tun, Pinkerton-san. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation: Meine Patienten leiden alle an der derselben Krankheit. Sie nennen es Bombengift, sie gehören zu den glücklichen Überlebenden.« Er musterte Joe einen Moment, hob fragend die silbergrauen Augenbrauen. »Was kann ich für Sie tun?«
    Erneut verspürte er Gewissensbisse, weil er dem Arzt die Zeit stahl, während draußen Kranke warteten, die dringend seiner Hilfe bedurften.
    »Man hat mir gesagt – ich habe gehofft, Sie könnten mir ein paar Fragen über meine Mutter beantworten. Über Cho-Cho-san. Sie haben sie lange gekannt.«
    Doktor Sat ō schob mit seinen blassen Händen irgendwelche Unterlagen auf dem Schreibtisch hin und her. Fragen über Cho-Cho. Ein lebloses Mädchen, das man auf einer Trage hereingebracht hatte, seine erste Begegnung mit einem fehlgeschlagenen Selbstmord …
    Das war nicht der geeignete Zeitpunkt, sich an jenen Tag zu erinnern.
    »Ich habe Cho-Cho-san viele Jahre gekannt.«
    Sie hatte sich lange geweigert, mit ihm zu reden, es sei denn, es ging um die Beantwortung medizinischer Fragen. Er gehörte zu den ungewollten Helfern, die sie vor ihrem erwünschten Ende »gerettet« hatten. Nach und nach fand sie sich damit ab, dass man gelegentlich einen Arzt brauchte, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sehr viel später waren sie Freunde geworden.
    Dann kam der Tag, an dem er ihr förmlich, zaghaft erklärt hatte, wenn er nicht länger ihr Arzt sei, dann könne er ihr auf eine persönlichere Art Fürsorge und Zuwendung zukommen lassen. Sie hatte unwirsch darauf reagiert: Als Arzt war er ihr nützlich. Als Freund schätzte sie ihn.
    Aber als Ehemann? Kopfschütteln.
    Bei der Erinnerung an diesen Tag sagte er laut: »Gankomono!«
    »Stur?«, wiederholte Joe verblüfft.
    Doktor Sat ō , gleichermaßen verblüfft, sagte: »Sie sprechen Japanisch. Ah. Ich habe diesen Begriff in seiner positiven Bedeutung gemeint: Ihre Mutter war … ein unabhängiger Geist. Ich hätte sagen sollen, sie besaß dokuritsushin .«
    Über den Schreibtisch hinweg sah er Joe an, suchte nach Worten, die er gefahrlos benutzen konnte.
    »Ihre Mutter«, sagte er. »Anfangs war sie fujin , ein altmodisches Mädchen, sie folgte der Tradition. Später bezeichneten sie die traditionell eingestellten Leute als Unruhestifterin,
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