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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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eine dieser modernen Frauen, die ein Mann sein wollen, wie sie es ausdrückten, an Zusammenkünften teilnehmen, an Märschen. Aber dann veränderte sie sich. Sie wurde zu einer Geschäftsfrau. Sie war eine echte Persönlichkeit.«
    »Haben Sie sie gemocht?« Das war eine heikle Frage.
    Der Arzt runzelte die Stirn. »Ich mag meine Patienten nicht. Ich helfe ihnen mit meinem Wissen.«
    »Suzuki hat mir gesagt, sie kam bei der Explosion ums Leben.«
    »Durch die Hitzewelle, ja. Sie muss auf der Stelle tot gewesen sein.«
    »Das höre ich dauernd. Aber woher wollen Sie das wissen?«
    Noch ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch wurden hin und her geschoben. Dafür gab es nicht die richtigen Worte. Der Arzt sah Joe mit einem der langen, ruhigen Blicke an, die seine Patienten von ihm gewohnt waren.
    »Ich will nichts beschönigen. Die Opfer der Hitzewelle wurden ausgelöscht. Von der Hitze buchstäblich verzehrt. Verdampft. Da es keine zuverlässigen Beweise für ein Leben nach dem Tod gibt, wissen wir nicht, was sie empfunden haben, aber aus wissenschaftlicher Sicht blieb ihnen keine Zeit zu leiden. Der Übergang vom Leben ins Nichts erfolgte schneller, als es der menschliche Körper wahrnehmen kann.«
    Vor dem Haus des Arztes saß Suzuki mit verschlossenem Gesicht in der Rikscha und wartete. Dieser Tag verlief nicht so, wie sie es geplant hatte. Sie hatte die bösartige Enthüllung ihrer Tochter nicht nur zu entschuldigen, sondern auch zu erklären versucht: Die Amerikaner waren die Feinde gewesen, die Amerikaner hatten die Bombe abgeworfen, ihre Freunde und die Familien von Freunden getötet. Joes Vater war Amerikaner.
    »Mayu wollte dich bestrafen. Es tut mir leid.«
    »Aber sie hat die Wahrheit gesagt.«
    »Wahrheit hat keine Gestalt. Für unterschiedliche Menschen kann sie eine unterschiedliche Bedeutung haben, genau wie Wasser: Es kann dir das Leben bringen, wenn du es trinkst, oder den Tod, wenn du darin ertrinkst. Eine Wahrheit lautet, dass eine Prostituierte aus einem Teehaus einen amerikanischen Seemann in ihr Bett geholt hat, eine andere erzählt von einem Waisenkind, das von einem Mann an einen anderen verkauft wurde. Und schließlich ist da noch die Wahrheit, nach der ein Mädchen einen goldenen Mann den Hügel zu ihrem Haus heraufkommen sah und ihn bis ans Ende ihres Lebens geliebt hat.«
    Er geht die gewundene Straße über dem Hafen hinauf. Im hellen Sonnenschein schimmern seine blonden Haare fast weiß. Selbst aus der Ferne sieht er amerikanisch aus. Er bleibt stehen, dreht sich um und wartet.
    Außer Atem von dem Versuch, ihn einzuholen, keucht Suzuki: »Bevor sie den Weg zu einer richtigen Straße ausgebaut haben, habe ich mich leichter getan, der Belag tut meinen Füßen weh.« Dann fährt sie fort: »Ich erinnere mich, dass ich deinen Vater beobachtet habe, als er in seiner weißen Uniform über diesen Hügel zum Haus heraufkam. Ein stattlicher, gutaussehender Mann.«
    Der Vater, an den Joe sich erinnert, ist ein müder Mann mit großen Händen und strohigen Haaren, der zu den Liedern von Bing Crosby im Radio mitsang.
    Während Joe zuhört, wie Suzuki ihm von den Ereignissen dieses Tages berichtet, die in seinem Kopf blass und verschwommen sind wie eine Landschaft hinter einem Regenschleier, in viele verwirrende Einzelteile zerfallen, nimmt er aus seiner Tasche den abgewetzten Kreisel, von dem bis auf einen Rest Gelb und Rot hier und da schon längst alle Farbe abgeblättert ist. Suzuki wirft einen Blick auf den Kreisel und ruft: »Du hast ihn immer noch! Ich bin den Hügel hinuntergerannt und habe ihn für deinen Vater gekauft, weil er dir ein Geschenk machen wollte!«
    Und da ist sie schon wieder, die unverlässliche Wahrheit. Wessen Version wird er dieses Mal zu hören bekommen? Werden ihm alle seine Erinnerungen eine nach der anderen geraubt? Der Kreisel war doch bestimmt ein Geschenk seiner Mutter? Wie kann ihn seine Erinnerung so trügen? Kann er sich denn auf nichts verlassen?
    Als sie sich einer Ansammlung von Gebäuden nähern, sagt Suzuki: »Ich ruhe mich hier ein paar Minuten aus. Bitte geh schon vor.«
    Sie deutet auf die Überreste des Hauses, und dann liegt der Pfad vor ihm – es sind nur ein paar Schritte zu der Tür mit der Steinschwelle, auf der er saß. Oder etwa nicht? Er kann sich an den kalten, harten Stein unter seinen kleinen Pobacken erinnern. Während in dem Raum hinter ihm Stimmen miteinander sprachen, saß er da und beugte sich vor, um eine Schnecke aufzuklauben. Er hielt
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