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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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ich sie nur über vier Ecken kannte, befanden sich unter meinen Freunden einige, die von Derek selbst über dessen Untreue informiert worden waren und die daraufhin die Freundschaft, ohne ein Wort darüber zu verlieren, beendeten und Gina weiterhin über die Affäre im Dunkeln ließen (oder es zuließen, dass sie selbst kein Wort über dieses Thema verlor). Es war geradezu unheimlich zu beobachten, wie viel Klatsch und Tratsch um Gina die einen großen Freundeskreis hat, die Runde machte. Allerdings besaß kein einziger den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen. Deshalb ging Derek aus dieser Episode als Sieger hervor: Sogenannte Freunde, die sein skrupelloses Verhalten seiner Frau gegenüber nicht länger ertrugen, halfen ihm dennoch, seine Lügengebilde aufrechtzuerhalten.
Lügen in Notfällen
    Kant war der Überzeugung, dass Lügen grundsätzlich gegen die vorherrschenden Sitten und die Moral verstößt, selbst wenn man mit einer Lüge einen Unschuldigen vor dem Tod durch Mörderhand retten könnte. Wie viele seiner philosophischen Ansichten stieß auch seine Haltung bezüglich der Lügen, anders als man meinen könnte, kaum auf Widerspruch, als handele es sich dabei um eine religiöse Doktrin. Zweifelsohne zeugt diese Maxime von höchster Klarheit und Tugend –
du darfst nicht lügen –
, doch in der Praxis kann sie zu einem Verhalten führen, das nur ein Psychopath wirklich gutheißen kann.
    Lügen kategorisch zu verbieten, ist aus ethischer Sicht für jeden von uns inkohärent, außer wir zählen zu den hundertprozentigen Pazifisten. Ist es dagegen für Sie denkbar, einen Angreiferzur Selbstverteidigung oder um jemand anderen zu schützen, zu verletzen oder gar zu töten, dann ist es mehr als widersprüchlich, unter solchen Umständen das Lügen zu verbieten. 9
    Ich persönlich sehe keinen Grund, Kant in dieser Hinsicht ernst zu nehmen. Damit möchte ich jedoch nicht sagen, dass es tatsächlich immer echte Gründe fürs Lügen gibt. Auch Lügen als Mittel, um Gewalt gegen sich oder andere abzuwenden, können eine ehrliche Kommunikation, die oftmals wesentlich effektiver ist, verhindern, und meist bleibt diese Tür dann für immer verschlossen.
    Unter solchen Umständen, also immer wenn eine Lüge unumgänglich ist, steht für uns im Allgemeinen fest, dass die Person, die wir im Begriff sind anzulügen, wohl gefährlich ist, und dass uns Ehrlichkeit in diesem speziellen Fall nicht weiterhilft. Anders ausgedrückt sind wir zu dem Urteil gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Person in Kontakt zu treten, gegen Null tendiert. Für die meisten von uns werden solche Umstände nur sehr selten, wenn überhaupt, zur Realität. Und selbst wenn dieser unwahrscheinliche Fall eintritt, ist es dennoch gut möglich, sich hinterher zu fragen, ob Lügen wirklich die einfachste (wenngleich aus moralischer Sicht nicht die beste) Möglichkeit war, aus dieser Situation herauszukommen.
    Sehen wir uns doch einmal ein ziemlich extremes Beispiel an, das stellvertretend für andere, ähnlich gelagerte Situationen stehen soll: Ein bekannter Mörder ist auf der Suche nach einem Jungen, den Sie gerade in Ihrem Haus beherbergen. Besagter Mörder steht nun vor Ihrer Haustür und möchte von Ihnen wissen, ob Sie sein potenzielles Opfer gesehen haben. Die Versuchung, in dieser Situation zu lügen, ist absolut nachvollziehbar – und doch besteht die Gefahr, dass die Geschichte dann einen Verlauf nimmt, den Sie fördern wollen. Wenn Sie dem Mörder antworten, dass Sie gesehen haben, wie der Junge über Ihren Gartenzaun geklettert und die Straße hinuntergerannt ist, geht der Mörder vielleicht weiter – und tötet das erstbeste Kind, das ihmzufällig über den Weg läuft. Unter diesen Umständen sind Sie vermutlich davon überzeugt, dass Ihnen nichts anderes übrigblieb, als zu lügen, und dass Sie alles getan haben, um das Leben eines unschuldigen Jungen zu retten. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass eine couragiertere Person als Sie mit der Wahrheit nicht ein glücklicheres Ende der Geschichte bewirkt hätte.
    Es bedeutet nämlich keineswegs, dass Sie so weit gehen müssten, das Versteck des Jungen preiszugeben und damit seinen Tod billigend in Kauf zu nehmen. Aufrichtigkeit würde hier bedeuten, dass Sie z. B. folgendermaßen reagieren: »Das würde ich Ihnen nicht einmal sagen, wenn ich es wüsste. Und wenn Sie noch einen Schritt weiter machen, jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf.« Mit einer Lüge, die Ihnen aufgrund Ihrer
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