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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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Angst oder eindeutigen körperlichen Unterlegenheit als einzige mögliche Option erscheinen mag, reichen Sie die Verantwortung, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen, einfach an einen anderen weiter. Vielleicht sind Ihre Nachbarn dieser Situation tatsächlich besser gewachsen als Sie, vielleicht aber auch nicht. Fest steht nur, dass
irgendjemand
sie übernehmen muss. Und sei es nur, damit wenigstens die Polizei den Mörder mit der nackten Wahrheit konfrontieren kann: Das Verhalten eines Mörders ist nicht tolerierbar.
    Wir werden wohl eher in Situationen geraten, in denen wir die lockende Versuchung, zu einer Lüge zu greifen, besser ausschlagen sollten, da Ehrlichkeit uns eher den Zugang zu den Menschen eröffnet, die anderenfalls unsere Gegner werden könnten. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begegnung mit einem US-amerikanischen Zollbeamten, die ich vor rund 25 Jahren hatte, als ich von meiner ersten Asienreise nach Hause zurückkehrte.
    Die Situation ereignete sich 1987, aber es hätte auch im Sommer der Liebe des Jahres 1967 – dem Höhepunkt der Hippiebewegung in den USA – sein können: Ich war 20, mein Haar warschulterlang, und ich war gekleidet wie ein indischer Rikscha-Fahrer. Kein Wunder, dass die Grenzbeamten, die den Kampf gegen Drogen mitbestreiten, mein Gepäck mit Argusaugen untersuchten. Zum Glück hatte ich weder etwas zu verzollen noch illegale Souvenirs im Gepäck.
    »Woher kommen Sie?«, wollte der Beamte von mir wissen und musterte misstrauisch mein Gepäck.
    »Ich war in Indien, Nepal und Thailand ...«, antwortete ich.
    »Haben Sie während Ihres Aufenthalts dort Drogen genommen?«
    Natürlich traf das zu. Die Versuchung, den Beamten anzulügen, war immens – weshalb sollte ich ausgerechnet mit einem
Zollbeamten
über meinen kürzlichen Drogenkonsum reden? Andererseits gab es keinen Grund, weshalb ich die Wahrheit verschweigen sollte. Mein »Geständnis« hätte wohl nur zur Folge, dass mein Gepäck (und vielleicht ich selbst) noch gründlicher untersucht würde, als dies bereits der Fall war.
    »Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    Der Beamte hörte damit auf, mein Gepäck zu durchsuchen und sah zu mir hoch. »Welche Drogen haben Sie denn genommen?«
    »Ich habe ein paar Mal Haschisch geraucht ... Und in Indien habe ich Opium ausprobiert.«
    »Opium?«
    »Ja.«
    »Opium oder Heroin?«
    »Es war Opium.«
    »In letzter Zeit hört man weniger von Opium.«
    »Ich weiß. Ich habe es zum ersten Mal im meinem Leben genommen.«
    »Führen Sie im Moment Drogen mit sich?«
    »Nein.«
    Der Beamte musterte mich für einen kurzen Moment aufmerksam und durchsuchte dann weiter mein Gepäck. Da es ja um Drogen ging, stellte ich mich darauf ein, dass das Ganze etwas länger dauern könnte. Ich beschloss, mich von meiner geduldigsten Seite zu zeigen. Ein kluger Entschluss, denn der Beamte untersuchte meine Sachen nun so gründlich, als ob ein einziger Gegenstand – eine Zahnbürste, ein Buch, eine Taschenlampe, ein Nylonseil – die Rätsel der Menschheit lösen könnte.
    »Und wie ist der Opiumrausch so?«, wollte er dann von mir wissen.
    Ich habe ihn dann aufgeklärt. Ganze zehn Minuten schilderte ich dem Hüter des Gesetzes, fast alles, was ich über die Wirkung von bewusstseinserweiternden Drogen wusste.
    Endlich beendete er seine Suche und machte meinen Rucksack wieder zu. Kurz bevor sich unsere Wege trennen sollten, war eines ganz klar: Wir beide fühlten uns gut, so wie unsere Begegnung verlaufen war.
    Als ich mir den Vorfall nochmals durch den Kopf gehen ließ, wurde mir klar, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob dieses Gespräch auch heute noch genauso stattfinden würde. Ich würde den Beamten zwar nicht anlügen, aber ich würde bestimmt nicht mehr so sehr ins Detail gehen und damit einen völlig neuen Kommunikationsstil im Dialog mit einem Grenzbeamten ausprobieren.
    Trotzdem bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass die Bereitschaft, ehrlich zu sein – vor allem, wenn es um etwas geht, das man geheim halten möchte – zu einem weitaus befriedigenderen Austausch mit den Mitmenschen führt.
    Hätte ich illegale Drogen bei mir gehabt, wäre meine Ausgangsposition natürlich eine völlig andere gewesen. Eines der schlimmsten Dinge bei einem Gesetzesverstoß ist ja, dass man eineungewisse Anzahl von Leuten gegen sich aufbringt. Damit wären wir bei einer der unangenehmsten Nebenwirkungen eines ungerechten Gesetzes angelangt: Sie führt nämlich friedliche und
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