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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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während einer Wahlkampfrede ohnmächtig wurde, bleibt dies für einen signifikanten Teil der Menschen als Fakt bestehen, auch wenn später bekannt wird, dass die Geschichte frei erfunden ist. Und das Gerücht besteht sogar weiterhin, auch wenn die Wahrheitschon ans Licht gekommen ist als sie davon hörten. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom »Wahrheitseffekt«. Wenn etwas bekannt erscheint, wird ihm automatisch Glaubhaftigkeit zugesprochen.
    Unter bestimmten Umständen, wie zum Beispiel im Krieg, ist es natürlich denkbar, auf eine Lüge zurückzugreifen – vor allem dann, wenn mit gezielten Fehlinformationen das Leben von Unschuldigen gerettet werden kann. Zugegeben, es kann sich als schwierig erweisen, die Grenze zwischen einer solchen Lüge und grundlosem oder vorsätzlichem Lügen wie oben erläutert zu ziehen – insbesondere wenn das Belügen des Feindes auch Freunde mit einbezieht. Unter solchen Umständen erkennen wir eine gut kaschierte Lüge oft nur im Nachhinein. Doch Zeiten von Krieg und Spionage sind extreme Ausnahmesituationen, die auch zwischenmenschliche Beziehungen zerstören oder ans Licht bringen, dass zwischen den Nationen keine Beziehung besteht, weshalb die üblichen Regeln partnerschaftlichen Verhaltens außer Kraft gesetzt werden. In dem Moment, in dem Bomben fallen oder die Infrastruktur eines Landes mit Angriffen aus der Luft vernichtet wird, sind Lügen nur noch eine weitere Waffe im Arsenal.
    Für die Wahrung von Staatsgeheimnissen gibt es gute Gründe. Für die Täuschung der eigenen Bevölkerung sind die Gründe jedoch so fadenscheinig, dass sie in meinen Augen nicht existent sind – vergleichbar mit einer moralischen Fata Morgana. Wann immer man glaubt, man könne die (optische) Täuschung erfassen, legen die Fakten einen anderen Schluss nahe. Der Schaden, der angerichtet wird, wenn derartige Täuschungen aufgedeckt werden, lässt sich allerdings kaum wiedergutmachen.
    Ich denke, dass es heutzutage selten notwendig ist, auf Lügen zurückzugreifen, außer man fungiert als Spion – vorausgesetzt, dass Spionage in unserer modernen Welt überhaupt nocherforderlich ist. Es heißt, dass Spione selbst ihre engsten Freunde und ihre Familie anlügen müssen. Ich bin mir sicher, dass ich ein solches Leben nicht führen möchte, ganz gleich, welche guten Gründe es dafür auch geben mag. In meinen Augen opfert ein Spion so ziemlich alle seiner persönlichen Moralvorstellungen, um den realen oder vermeintlichen Kampf gegen das Böse zu gewinnen. Es ist nichts anderes als die moralische Selbstaufgabe.
    Von Spionen können wir genauso viel über unser alltägliches Leben lernen wie von den Astronauten und ihren Flügen ins All ... nämlich rein gar nichts. Wir brauchen uns nicht unnötig den Kopf darüber zerbrechen, welche Folgen die Schwerelosigkeit für unsere Knochendichte hat. Und genauso wenig müssen wir uns überlegen, ob jedes einzelne Wort, das uns über die Lippen kommt, die nationale Sicherheit bedroht. Die Moral eines Krieges oder von Spionagetätigkeiten entspricht der Ethik von Ausnahmesituationen und Notfällen, und kommt allein deshalb äußerst selten vor.
Zusammenfassung
    Nicht anders als in
Anna Karenina
,
Madame Bovary
oder
Othello
beschrieben, ist es auch im wahren Leben: Die Mehrheit aller privaten und öffentliche Laster und Verfehlungen beginnt mit einer Lüge und wird durch sie aufrechterhalten. Ehebruch und andere Treuebrüche, Finanzbetrug oder Beamtenbestechung, ja sogar Mord und Völkermord – alles wäre kaum ohne einen weiteren moralischen Mangel möglich: die Bereitschaft zu lügen.
    Man könnte sagen, Lügen geht mit der Weigerung einher, mit anderen zu kooperieren. Bei einer Lüge verschmelzen mangelndes Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zu einem einzelnen Akt. Bei einer Lüge mangelt es sowohl am Verständnis für den anderen als auch an der Bereitschaft, verstanden zu werden. Lügen heißt, sich dem Beziehungsgeflecht zu entziehen.
    Durch unsere Lügen versperren wir unseren Mitmenschen die Sicht auf die Welt, wie sie wirklich ist. Unsere Unaufrichtigkeit wirkt sich nicht nur auf ihre Entscheidungen aus, sondern legt oftmals sogar fest, welche Wahl sie überhaupt treffen
können
– in einer Art und Weise, die unmöglich vorherzusagen ist. Jede Lüge ist ein direkter Angriff auf die Autonomie der Opfer unserer Lügen.
    Lügen wir nur eine einzelne Person an, ist es dennoch gut möglich, dass diese Unwahrheit weite Kreise zieht und sich
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