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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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Sage ich ihm jetzt, dass mir sein neues Werk wirklich gut gefällt, dann weiß er genau, dass ich ihm nicht schmeichle, sondern dass dies meine ehrliche Meinung ist. Und er weiß, dass ich ihn respektiere und sein Talent als Schriftsteller schätze, er weiß aber auch, dass ich ihm sage, wenn ich meine, dass eines seiner Werke nicht gelungen ist. Ich bin mir sicher, dass es Menschen in seinem Umfeld gibt, auf die dies nicht zutrifft. Doch weshalb sollte ich zu dieser Gruppe von Menschen zählen wollen?
Geheimnisse
    Sich der Ehrlichkeit zu verpflichten, bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir Fakten über uns und unser Leben offenlegen müssen, die wir eigentlich lieber für uns behalten wollen. Erkundigt sich jemand nach Ihrem Kontostand, sind Sie aus moralischer Sicht keineswegs verpflichtet, diesen preiszugeben. Die Wahrheit könnte in dem Fall lauten: »Das möchte ich wirklich nicht sagen.«
    Im Prinzip ist es also kein Widerspruch, wenn man nach dem Motto lebt, immer aufrichtig zu sein und trotzdem ein paar Geheimnisse über sich zu bewahren. Trotzdem möchte ich Sie, liebe Leser, darauf hinweisen, dass uns Geheimnisse – vor allem, wenn uns eine Verschwiegenheitsverpflichtung von Dritten auferlegt wird – in Situationen bringen können, in denen wir uns zwischen der Geheimhaltung und Preisgabe der uns vertrauten Informationen entscheiden müssen. Das Versprechen, etwas unter allen Umständen für sich zu behalten, bedeutet, sich eine mehr oder weniger große Last auf die Schultern zu legen. Das Geringste dabei ist, sich merken zu müssen, über was wir Stillschweigen bewahren müssen. Doch auch das kann sich als schwierig erweisen und zu unbeholfenen Versuchen führen, sein Gegenüber zu täuschen. Es ist ratsam, die Rolle eines Geheimnisträgers auszuschlagen, außer Sie müssen dies aus beruflichen Gründen tun, wie zum Beispiel Ärzte, Anwälte, Psychologen und andere Vertrauensleute, für die eine Schweigepflicht selbstverständlich ist.
    Stephanie und Gina waren über zehn Jahre miteinander befreundet, als Stephanie das Gerücht aufschnappte, dass Ginas Mann Derek eine Affäre hätte. Obwohl Stephanie nicht das Gefühl hatte, sie stünde Gina nahe genug, um sie direkt darauf anzusprechen, ergaben ein paar Nachfragen im Bekanntenkreis, dass fast jeder von Dereks Untreue wusste – außer Gina.
    Derek war alles andere als diskret vorgegangen. Er arbeitete in der Filmbranche, und seine Geliebte war eine angehende Schauspielerin. Einmal hatte er diese Frau während des gemeinsamen Urlaubs mit Gina und den Kindern sogar im selben Hotel untergebracht. Später stellte er sie als Produktionsassistentin ein, sodass es selbstverständlich war, dass sie ihn auf seinen Geschäftsreisen begleitete und an den Veranstaltungen teilnahm, die auch Gina besuchte.
    Natürlich wollte Stephanie ihrer Freundin Gina helfen. Doch was war in dieser Situation die richtige Entscheidung? Sie war nur eine weitläufige Bekannte, und sie hatte der Person, die ihr von Dereks Affäre erzählt hatte, versprochen, Gina gegenüber kein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Stephanie kannte außerdem ein paar von Ginas Freundinnen, die enger mit ihr befreundet waren als sie selbst – weshalb hatten sie ihr denn bisher nichts gesagt?
    Stephanie traf sich mit Gina noch ein paar Mal – jahrelang hatten sie sich zum gemeinsamen Mittagessen verabredet –, aber letztlich merkte sie, dass sie sich in ihrer Gesellschaft nicht mehr wohlfühlte. Gina erzählte ihr davon, dass das neue Haus bald fertig sei oder sprach von ihren Urlaubsplänen, und Stephanie hatte dabei immer das ungute Gefühl, dass sie mit ihrem Schweigen letztendlich zum Unglück ihrer Freundin beitrug. Eine ganz normale Unterhaltung wurde für sie zur Qual, da sie ja so tun musste, als wäre alles in bester Ordnung. Für Stephanie selbst war dieses falsche Spiel fast genauso schlimm wie eine Lüge, und es machte für sie keinen Unterschied, ob Gina nun selbst von der Affäre ihres Mannes wusste und den Deckmantels des Schweigens darüber ausgebreitet, ob sie ein Opfer seines schäbigen Verhaltens war oder ob Derek ihre gemeinsamen Freunde eingeweiht und zur Verschwiegenheit verpflichtet hatte. Wie auch immer, ohne eigenes Zutun entfremdeten sich die beiden Frauen rasch voneinander und verloren den Kontakt.
    Ich war relativ eng an diesem Geschehen dran und fand es einfach nur unerträglich. Ich bin mit Stephanie verwandt und hatte Gina und Derek ein paar Mal getroffen. Auch wenn
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