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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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bitterlich darüber beklagt, dass er wieder kein Engagement hat? Soll er »am Ball bleiben«? Dieser falsche Rat fällt meiner Meinung nach in die Kategorie Eigentumsdelikt. Es raubt dem Betroffenen Zeit, Energie und Motivation, doch das Schlimmste ist, dass er diese Ressourcen auch dafür nutzen könnte, sich um einen Plan B zu kümmern.
    Ich will damit keineswegs zum Ausdruck bringen, dass wir mit unserem Urteil über unsere Mitmenschen immer richtig liegen. Zu einem ehrlichen Umgang miteinander gehört ja auch, dass wir jegliche Unsicherheit, die wir hinsichtlich der Relevanz unserer Meinung spüren, ebenfalls kommunizieren. Doch wenn wir davon überzeugt sind, dass ein Freund auf dem Holzweg ist, ist es wahrlich kein Zeichen von Freundschaft, ihn fröhlich anzulächeln und ihm zu signalisieren, dass er schon alles richtig macht und kein Handlungsbedarf seinerseits besteht.
    Selbst wenn es manchmal wehtut, die Wahrheit zu sagen, kann man diese doch in der Regel erklären und nähere Informationen liefern, die nicht zu verletzend sind. Die grundlegende Wahrheit, die hinter den bereits erwähnten Beispielen stehen, lautet, dass Sie Ihre Freunde gern haben und wollen, dass sie glücklich sind. Sie sollten die Möglichkeit haben, ihr Leben zu ändern, um zufriedener und glücklicher zu werden. Lügen hilft dabei wahrlich nicht weiter, da Sie ihnen damit nicht nur Ihre Unterstützung verweigern, sondern auch wichtige Informationen vorenthalten und so den Boden für weitere Enttäuschungen bereiten. Zugegeben, die Versuchung, hier auf eine gut gemeinte Notlüge zurückzugreifen, ist groß.
    In dem Moment, in dem wir unsere Freunde anlügen, weil wir denken, es sei nur zu ihrem Besten, spielen wir uns zum Richter über deren Leben auf: einer, der am besten weiß, was gut für andere ist und was sie über sich und ihr Leben wissen sollten – über ihr Aussehen, ihren Ruf und ihre Zukunftsaussichten. Diese Haltung dient allerdings nicht dazu, dass man seinen Mitmenschen auf gleicher Augenhöhe begegnet, weshalb es für mich persönlich nicht infrage kommt. Sich anzumaßen, darüber zu entscheiden, was jemand über sein eigenes Leben erfahren sollte, scheint mir die Quintessenz von Arroganz zu sein – außer jemand ist akut selbstmordgefährdet oder steht aus anderen Gründen am Abgrund. Können Sie sich einen respektloseren Umgang gegenüber Menschen vorstellen, die uns am Herzen liegen?
    Beim Schreiben dieses Buches wollte ich von meinen Freunden und Lesern wissen, ob es in ihrem Leben Lügen gegeben hat, die ihr Leben radikal beeinflusst haben. Ein paar davon möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Ich habe sämtliche Namen geändert, damit die Anonymität der jeweiligen Personen gewährleistet ist.
    Viele Menschen haben mir erzählt, dass innerhalb ihrer Familie ein Geheimnis um Krankheiten und ärztliche Diagnosen gemacht wird. Nachfolgend ein Beispiel, das stellvertretend für viele andere steht:
    Als meine Mutter Ende 30 war, wurde bei ihr MS diagnostiziert. Ihr behandelnder Arzt war der Ansicht, es wäre das Beste für sie, wenn er sie anlügen und ihr sagen würde, dass sie nicht daran erkrankt sei. Meinem Vater dagegen hatte er die Wahrheit gesagt. Der wiederum beschloss, die Diagnose für sich zu behalten, weil er weder meine Mutter noch uns drei Geschwister mit dieser Tatsache belasten wollte.
    Mittlerweile war meine Mutter jedoch in die Bibliothek gegangen, hatte dort die einschlägige Fachliteratur auf ihre Symptome hin recherchiert und kam selbst zu dem Ergebnis, dass sie an MS leidet. Auch sie beschloss, weder meinem Vater noch uns Kindern Bescheid zu geben, weil sie uns vor dieser großen Last schützen wollte.
    Ein Jahr später teilte ihr der Arzt nach der jährlichen Vorsorgeuntersuchung mit, dass sie an MS erkrankt sei. Sie räumte ein, dass sie das bereits wisse, es aber für sich behalten hätte. Mein Vater sagte genau das Gleiche. Ein Jahr lang hatten sie ihr Geheimnis gehütet und dafür den hohen Preis bezahlt, dass sie sich gegenseitig nicht unterstützen und halten konnten, obwohl es für beide das Beste gewesen wäre.
    Ein weiteres Jahr später fand mein Bruder alles durch einen Zufall heraus. Meine Mutter musste sich einer Operation wegen Brustkrebs unterziehen. Der Chirurg kam in ihr Zimmer und meinte knapp und bündig zu ihr: »Der Eingriff hat keinerlei Auswirkungen auf ihre MS.« Mein Bruder war geschockt: »Welche MS?«. Ich glaube, meine Schwester und ich haben erst Jahre später von Moms
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