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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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MS erfahren ... Ich war aber nicht dankbar, dass meine Eltern mich schützen wollten, sondern nur traurig, weil wir als Familie es nicht geschaffthatten, uns ihrer Krankheit zu stellen und einander gegenseitig dabei zu helfen, damit fertig zu werden.
    Meine Mutter hat ihrer Mutter nie etwas davon erzählt, dass sie an MS erkrankt ist, was wiederum dazu führte, dass wir auch Freunden und Verwandten nichts davon sagen durften, da unsere Oma es dann vielleicht herausfinden könnte. Auch meine Mutter wollte sie nur schützen und ihr nicht wehtun. Doch ich glaube, damit hat sie sich selbst die Chance genommen, ein besseres Verhältnis zu ihrer Mutter zu aufzubauen.
    Es ist noch gar nicht so lange her, dass über Krankheiten grundsätzlich die Decke des Schweigens gebreitet wurde. Auch in meiner Familie gab es so etwas: Meine Großmutter mütterlicherseits starb an Krebs, als meine Mutter 16 Jahre alt war. Meine Oma hatte ein knappes Jahr an Schwarzem Hautkrebs gelitten, der schon Metastasen gebildet hatte, doch der Arzt hatte ihr gesagt, es handle sich um Arthritis. Ihr Mann, also mein Großvater, wusste von der richtigen Diagnose, beschloss aber, es ihr nicht zu sagen.
    Nachdem sich der Zustand meiner Großmutter zusehends verschlechterte, wurde sie schließlich ins Krankenhaus gebracht. Dort vertraute sie einer Krankenschwester an, dass sie wüsste, dass sie sterben würde. Doch sie war davon überzeugt, dass der Rest der Familie, und sogar ihr eigener Mann, keine Ahnung davon hätten. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass meine Mutter und ihr jüngerer Bruder darüber völlig im Dunkeln gelassen wurden. Für sie stellte es sich so dar, als wäre ihre Mutter wegen »Arthritis« ins Krankenhaus gekommen und nie wieder zurückgekommen.
    Diese Heimlichtuerei verhindert, dass die Betroffenen einander zur Seite stehen, dass sich ihre Zuneigung und Liebe vertieft, dass es zu einer Versöhnung kommt und man den anderenversteht. Geben wir nämlich vor, die Wahrheit nicht zu kennen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns schweigend zu verhalten. Dies kann uns zu Entscheidungen zwingen, die wir normalerweise nicht treffen würden. Hatte mein Großvater seiner Frau wirklich
nichts
zu sagen, obwohl er wusste, dass sie schon bald tot sein würde? Hatte sie ihren beiden Kindern tatsächlich
nichts
zu sagen, um sie darauf vorzubereiten, dass sie schon bald nicht mehr für sie da sein würde? In Fällen wie diesen wird kein Wissen weitergegeben, werden keine Versprechen gemacht, und es kommt nicht zu einer Aussöhnung. Die Gelegenheit, den Menschen, die man liebt, noch ein letztes Wort mit auf den Weg zu geben, verstreicht und bietet sich nie wieder.
    Und wer möchte diese Welt ganz allein verlassen? Vielleicht gibt es solche Menschen ja tatsächlich, aber sollte ein Arzt diese Entscheidung für seine Patienten treffen?
Vertrauen
    Neulich ertappte Jessica ihre Freundin Lucy zufällig bei einer Notlüge. Lucy hatte eine gesellschaftliche Verpflichtung, vor der sie sich drücken wollte, und Jessica bekam mit, was sie einer anderen Freundin auf den Anrufbeantworter sprach. Der Grund, weshalb sie ihr Treffen angeblich verschieben musste, war frei erfunden – ihre Tochter sei plötzlich krank geworden. Was Jessica aber vor allem erstaunte, war die Tatsache, wie leicht Lucy diese Ausrede über die Lippen kam und wie überzeugend sie dabei klang. Natürlich fragte sie sich, ob sie selbst auch schon von Lucy angelogen worden war. Immer wenn Lucy jetzt ein Treffen absagt, ist sich Jessica nicht sicher, ob ihre Freundin ihr die Wahrheit erzählt.
    Diese kleinen Vertrauensbrüche sind deshalb so heimtückisch, weil in der Regel niemand je ein Wort darüber verliert. Lucy hat keinen Grund zur Annahme, dass Jessica misstrauisch ist – das ist ja auch nicht der Fall. Jessica vertraut ihr nur nicht mehr so wie früher, seitdem siezufällig mitbekam, dass Lucy ohne schlechtes Gewissen lügen kann wie gedruckt. Vielleicht hätte Jessica das Thema angesprochen, wenn das Problem ernster (oder ihre Freundschaft tiefer) gewesen wäre, aber wie so oft, besteht für Jessica kein Anlass, Lucy wegen ihrer moralischen Ansichten zur Rede zu stellen. Was unter dem Strich bleibt, ist die Tatsache, dass eine einzige Nachricht, die auf dem Anrufbeantworter einer unbeteiligten Dritten hinterlassen wurde, eine Freundschaft subtil untergraben hat.
    Sie haben ja schon meine Geschichte mit dem Souvenir gelesen und wissen, dass es gefährlich sein kann, in
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