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LYING GAME Und raus bist du

LYING GAME Und raus bist du

Titel: LYING GAME Und raus bist du
Autoren: Shepard Sara
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griff und begann, das verhüllte Mädchen zu würgen, schoss Angst durch Emmas Bauch. Als die anonyme Hand die Augenklappe abriss, erschien ihr eigenes Gesicht auf dem Display. Emma hatte dieselben dichten kastanienbraunen Locken wie das Mädchen im Film. Dasselbe runde Kinn. Dieselben rosaroten Lippen, wegen der sie in der Schule gehänselt worden war, weil ihre Mitschüler fanden, sie sähen so geschwollen aus, als habe sie eine allergische Reaktion gehabt. Sie schauderte.
    Auch ich schaute mir das Video noch einmal entsetzt an. Das im Licht schimmernde Medaillon brachte einen winzigen Erinnerungsfetzen an die Oberfläche meines Geistes: Ich erinnerte mich, wie ich den Deckel meiner Baby-Schatulle geöffnet und das Medaillon unter einer halb zerkauten Zahnungs-Giraffe, einer flauschigen Babydecke und einem Paar gestrickter Schühchen herausgezogen und mir um den Hals gelegt hatte. Das Video selbst rief allerdings nichts in mir wach. Ich wusste nicht, ob es in meinem Garten gedreht worden war … oder drei Staaten weiter. Ich wünschte, ich könnte meinem Nachtod-Gedächtnis eine kräftige Ohrfeige verpassen.
    Aber das Video zeigte doch sicher, wie ich gestorben war, richtig? Das dachte ich vor allem wegen des kleinen Flashbacks, den ich beim Erwachen in Emmas Badezimmer gehabt hatte: Dieses Gesicht dicht vor meinem, mein heftig klopfendes Herz, mein Mörder, der vor mir aufragte. Aber ich hatte keine Ahnung, wie das Ganze funktionieren sollte: War ich in dem Augenblick nach meinem letzten Atemzug in Emmas Welt gelandet, oder war mein Tod schon Tage – oder Monate – her? Und wie war das Video ins Internet gelangt? Hatte meine Familie es gesehen? Meine Freunde? War es eine Art kranke Lösegeldforderung?
    Endlich schaute Emma vom Bildschirm auf. »Wo hast du das gefunden?«, fragte sie Travis.
    »Da hatte wohl jemand keine Ahnung, dass sie ein Internet-Star ist, was?« Travis nahm sein Telefon wieder an sich. Clarice fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sie schaute immer wieder vom Display zu Emmas Gesicht. »So etwas machst du in deiner Freizeit?«, fragte sie heiser.
    »Wahrscheinlich wird sie davon high.« Travis schritt über die Veranda wie ein Löwe auf der Pirsch. »Letztes Jahr gab es in meiner Schule ein paar Mädchen, die total davon besessen waren. Eine ist beinahe daran gestorben.«
    Emma blickte von Travis zu Clarice. »Moment mal, nein. Das bin nicht ich. Das Mädchen in dem Video ist jemand anderes.«
    Travis verdrehte die Augen. »Jemand, der genauso aussieht wie du?«, konterte er. »Lass mich raten: deine lang vermisste Schwester? Dein böser Zwilling?«
    Aus der Ferne hörte man leises Donnergrollen. Die Abendbrise roch nach nassem Asphalt, ein sicheres Zeichen dafür, dass bald ein Sturm aufkommen würde. Eine lang vermisste Schwester. Der Gedanke entzündete in Emmas Kopf ein Brillantfeuerwerk. Es war möglich. Sie hatte die Leute vom Jugendamt einmal gefragt, ob Becky außer ihr noch andere Kinder ausgesetzt hatte, aber sie hatten ihr keine Antwort geben können.
    Auch in meinem Kopf brannte ein Gedanke: Ich war adoptiert. Daran erinnerte ich mich noch. In meiner Familie wurde offen darüber gesprochen, meine Eltern hatten nie versucht, meine Herkunft vor mir geheim zu halten. Sie hatten mir gesagt, die Adoption habe sich sehr spontan ergeben und sie hätten meine leibliche Mutter nie kennengelernt. War das wirklich möglich? Es würde erklären, warum ich buchstäblich an dieses Mädchen gekettet war, das aussah wie ich, und warum ich ihr folgen musste, als seien unsere Seelen miteinander verschmolzen.
    Clarice klopfte mit ihren langen Fingernägeln auf den Tisch. »Ich dulde in meinem Haus keine Lügen und keinen Diebstahl, Emma.«
    Emma kam es vor, als habe man ihr einen Tritt in den Bauch versetzt.
    »Das bin nicht ich in dem Video«, protestierte sie. »Und ich habe dich auch nicht bestohlen, das schwöre ich.«
    Emma griff nach ihrer Leinentasche auf dem Gartentisch. Sie musste nur Eddie, den Geschäftsführer der Achterbahn, anrufen. Er würde bestätigen, dass sie heute den ganzen Tag bei der Arbeit gewesen war. Aber Travis war zuerst bei ihrer Tasche und warf sie um. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden.
    »Ups«, rief er schadenfroh.
    Emma beobachtete hilflos, wie ihre zerlesene Ausgabe von Hemingways »Fiesta« auf einem staubigen Ameisenhügel landete. Ein zerknitterter Gutschein für ein All-You-Can-Eat-Grillbuffet im MGM Grand wurde von einem Windstoß erfasst und wehte zu
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