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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua
Autoren: dtv
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düster, der Klöppel, das Herz der
     Glocke, schlug nur an einer Seite der Glocke an. Elencia von Stietencron ergriff Reynevans Hand und drückte sie heftig. Reynevan
     erwiderte ihren Händedruck.
     
    Exaudi Deus orationem meam cum deprecor
    a timore inimici eripe animam meam . . .
     
    Das zur Sakristei führende Portal war mit Reliefs verziert, die den Märtyrertod des heiligen Johannes des Täufers, des Schutzheiligen
     des Domes, darstellten. Singend traten daraus zwölf Prälaten hervor, Mitglieder des Domkapitels. In liturgische Gewänder gekleidet,
     dicke Kerzen in den Händen haltend, blieben die Prälaten vor dem Hauptaltar stehen, die Gesichter dem Kirchenraum zugewandt.
     
    Protexisti me a conventu malignantium
    a multitudine operantium iniquitatem
    quia exacuerunt ut gladium linguas suas
    intenderunt arcum rem amaram
    ut sagittent in occultis immaculatum . . .
     
    Das Gemurmel der Menge wuchs an und wurde plötzlich stärker. Denn Konrad, der Bischof von Breslau, höchstselbst, ein Piast
     aus dem Geschlecht der Herzöge von Oels, war auf dieStufen des Altars getreten. Schlesiens höchster kirchlicher Würdenträger, der Statthalter des allergnädigsten Herrn Sigismund
     von Luxemburg, des Königs von Ungarn und Böhmen. Der Bischof war in vollem Ornat. Auf dem Kopf die edelsteingeschmückte Infula,
     in der über die Albe gezogenen Dalmatik, das Kreuz auf der Brust und den oben wie eine Breze gewundenen Krummstab in der Hand,
     präsentierte er sich als das Idealbild der Würde. Ihn umgab eine derart herrliche Aura, dass man dachte, nicht irgendein Breslauer
     Bischof schreite da die Stufen herab, sondern ein Erzbischof, ein Kurfürst, ein Metropolit, ein Kardinal, ja sogar der römische
     Papst selbst. Eine Person, die sogar noch würdiger und heiliger erschien als der derzeitige Papst in Rom. Viel würdiger und
     noch viel heiliger. So dachte mehr als einer von jenen, die hier im Dom versammelt waren. Der Bischof selbst dachte übrigens
     ebenso.
    »Brüder und Schwestern!« Seine mächtige, klangvolle Stimme elektrisierte und beschwichtigte die Menge, sie schien in das hohe
     Gewölbe emporzudringen. Nach einem letzten Schlag verstummte die Domglocke.
    »Brüder und Schwestern!« Der Bischof stützte sich auf den Krummstab. »Ihr guten Christen! Unser Herr Jesus Christus lehrt
     uns, dass wir den Sündern ihre Schuld vergeben, dass wir für unsere Feinde beten sollen. Das ist eine gute und barmherzige
     Lehre, eine christliche Lehre, aber sie kann nicht auf jeden Sünder angewandt werden. Denn es gibt Schuld und Sünden, für
     die gibt es keine Vergebung, für die gibt es kein Erbarmen. Jede Sünde und jede Lästerung wird vergeben, nicht aber die Lästerung
     gegen den Heiligen Geist.
Neque in hoc saeculo neque in futuro
, nicht in diesem Jahrhundert, noch im nächsten.«
    Der Diakon reichte ihm eine brennende Kerze. Der Bischof hielt sie in seiner behandschuhten Rechten.
    »Reinmar aus dem Geschlechte derer von Bielau, der Sohn des Thomas von Bielau, hat gegen Gott und die Heilige Dreifaltigkeit
     gesündigt. Er hat gesündigt durch Gotteslästerung,Heiligenschändung, Zauberei, Abfall vom Glauben sowie durch gewöhnliche Verbrechen.«
    Elencia, die immer noch Reynevans Hand umklammert hielt, seufzte laut und blickte nach oben in sein Gesicht. Sie seufzte erneut,
     diesmal aber leiser. Auf Reynevans Gesicht zeichnete sich keinerlei Regung ab. Sein Gesicht war tot. Leblos wie ein Stein.
     Dieses Gesicht hatte er auch in Ohlau, dachte Elencia erschrocken. In Ohlau, in der Nacht vom sechzehnten auf den siebzehnten
     Januar.
    »Über solche wie Reinmar von Bielau«, die Stimme des Bischofs rief wieder das Echo zwischen den Säulen und Arkaden des Gotteshauses
     hervor, »sagt die Heilige Schrift: Wenn sie vor der Verderbnis der Welt davonlaufen und ihren Herrn und Erlöser erkennen,
     sich dann aber wiederum der Verderbnis hingeben, so werden sie bezwungen, und ihr Ende wird schlimmer sein als je zuvor. Denn
     sie hätten besser daran getan, den Weg der Gerechtigkeit nicht zu kennen, als ihn zu kennen und sich dann von dem ihnen gewiesenen
     heiligen Gebot abzuwenden. An ihnen erfüllt sich, wie es geschrieben steht: Der Hund kehrt zu seinem eigenen Erbrochenen,
     das gereinigte Schwein zu seiner Schlammgrube zurück.«
    »Zum eigenen Erbrochenen«, Konrad von Oels hob seine Stimme noch stärker, »und in die Schlammgrube ist der Abtrünnige und
     Häretiker Reinmar von Bielau zurückgekehrt, ein
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