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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua
Autoren: dtv
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schon mehr als zwei Monate, und noch dazuWintermonate! Wir sind an die vierzig Meilen marschiert. Wir schleppen Wagen mit uns mit, die schwer beladen sind mit Beute,
     ganze Rinderherden treiben wir vor uns her. Aber die Moral sinkt, die Leute sind müde. Schweidnitz hat uns Widerstand geleistet,
     obwohl wir es fünf Tage lang belagert haben. Ich will dir die Wahrheit sagen, Reynevan, wir hatten keine Kraft mehr zu einem
     Sturm. Wir haben sie aus unseren Büchsen beschossen, Feuer auf die Dächer gefegt, Angst verbreitet, damit sich die Schweidnitzer
     vielleicht endlich ergeben oder wenigstens übers Lösegeld verhandeln wollen. Aber Herr von Kolditz hatte keine Angst vor uns,
     und wir mussten unverrichteter Dinge abziehen. Wie man sieht, hat sich Striegau ein Beispiel daran genommen, denn es hält
     sich tapfer. Und wir spielen wieder die Schrecklichen, wir erschrecken sie, ballern mit Bombarden, schlagen uns mit den Breslauer
     Truppen, die ständig versuchen, uns anzugreifen, in den Wäldern herum. Aber ich sag’ dir die Wahrheit: Auch hier werden wir
     leer ausgehen. Werden wir abziehen müssen. Nach Hause. Weil’s Zeit ist. Was meinst du?«
    »Ich meine gar nichts. Du bist hier doch der Anführer.«
    »Der Anführer, der Anführer.« Der Hauptmann drehte sich abrupt um. »Eines Heeres, dessen Moral böse gesunken ist. Und du,
     Reynevan, zuckst mit den Achseln und meinst gar nichts. Und was tust du? Rettest einen verwundeten Deutschen. Einen Papisten.
     Bringst ihn her und verlangst von unserem Wundarzt, dass er ihn behandelt. Du erweist einem Feind Barmherzigkeit? Vor den
     Augen aller? Du hättest ihn im Wald abschlachten müssen, verdammt noch mal!«
    »Das meinst du doch nicht im Ernst?«
    »Ich hab’ es mir geschworen
. . .
«, presste Královec zwischen den Zähnen hervor. »Nach Ohlau
. . .
Ich habe mir geschworen, dass ich nach Ohlau keinem von ihnen mehr Pardon geben werde. Keinem Einzigen!«
    »Wir können doch nicht aufhören, Menschen zu sein.«
    »Menschen?« Dem Hauptmann der Waisen trat fast derSchaum vor den Mund. »Menschen? Weißt du, was in Ohlau geschehen ist? In der Nacht vor dem Festtag des heiligen Antonius?
     Wenn du dort gewesen wärest, wenn du das gesehen hättest
. . .
«
    »Ich war da. Und ich habe es gesehen.«
    »Ich war in Ohlau«, wiederholte Reynevan, während er ohne Gefühlsregung das Gesicht des überraschten Hauptmanns erforschte.
     »Ich bin knapp eine Woche nach dem Dreikönigstag dort angelangt, kurz nach eurem Abzug. Ich war am Sonntag vor dem Tag des
     heiligen Antonius in der Stadt. Und habe alles gesehen. Ich habe auch den Triumph gesehen, den Breslau wegen Ohlau gefeiert
     hat.«
    Královec schwieg eine Zeit lang und blickte von der Schanze zum Glockenturm der Striegauer Pfarrkirche, in dem eben die Glocke
     zu läuten begann, volltönend und laut.
    »Also warst du nicht nur in Ohlau, sondern auch in Breslau«, stellte er fest. »Und nun bist du hierher nach Striegau gekommen,
     als wärest du vom Himmel gefallen. Du tauchst plötzlich auf, du verschwindest wieder
. . .
Man weiß nicht, woher, man weiß nicht, wie
. . .
Die Leute fangen schon an zu reden, dummes Zeug zu schwatzen, zu verdächtigen
. . .
«
    »Was für einen Verdacht?«
    »Bleib ruhig, reg dich nicht auf. Ich vertraue dir. Ich weiß, du hattest Wichtiges zu tun. Als du dich damals bei Altwilmsdorf
     von uns getrennt hast, am 27.   Dezember, auf dem Schlachtfeld, da haben wir gemerkt, dass du es wegen einer wichtigen, einer unerhört wichtigen Sache sehr
     eilig hattest. Hast du sie erledigen können?«
    »Nichts habe ich erledigen können.« Reynevan verbarg seine Verbitterung nicht. »Aber ich bin verflucht. Verflucht im Stehen,
     im Tun und im Gehen. Auf den Bergen und in den Tälern.«
    »Wie das?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Die mag ich besonders.«
     
    Dass heute im Dom zu Breslau etwas Außergewöhnliches geschehen würde, verkündete den im Gotteshaus versammelten Gläubigen
     das aufgeregte Stimmengewirr jener, die sich in der Nähe des Querhauses und des Chors befanden. Sie sahen und hörten weit
     mehr als die anderen, die dicht gedrängt im Mittelschiff und in den Seitenschiffen standen. Sie mussten sich zunächst mit
     Vermutungen begnügen. Und mit Geschwätz und Gerüchten, die, von anschwellendem Geflüster getragen, von einem zum anderen zogen
     wie Laubgeraschel im Wind.
    Die große Domglocke begann zu schlagen, und sie schlug dumpf und bedächtig, feindselig und
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