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Lumpenloretta

Lumpenloretta

Titel: Lumpenloretta
Autoren: Christine Nöstlinger
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weiter gegangen und zwischen den Büschen am Straßenrand durch und die Böschung runter und hat sich auf seinen Stein gesetzt. Der Stein gehört nicht wirklich ihm. Der Bauer, dem das Grünzeugfeld an der Böschung gehört, hat den babybadewannengroßen Granitbrocken vor ein paar Jahren aus der Erde gebaggert und am Feldrand abgelegt.
    Glatze ist oft auf diesem Stein gesessen, und jeder hat gewusst, dass man ihn dann besser nicht anredet. Und jeder hat auch gewusst, dass es Glatze nicht mag, wenn sich jemand anderer auf dem Stein breitmacht. Da hat er echt biestig werden können. Stur hat er behauptet, dass ihm der Bauer den Stein geschenkt hat. Was natürlich nicht gestimmt hat. Aber jeder hat einen Tick, und weder Locke, noch Zecke oder Zahn haben es der Mühe wert gefunden, mit ihm deswegen lang und breit herumzustreiten.
    Dass Glatze den Granitbrocken für sich allein hat haben wollen, ist aber schon erstaunlich gewesen, weil er keiner ist, der ungern mit anderen teilt. Im Gegenteil. Du kannst von seinem Schulbrot abbeißen, seine Buntstifte benutzen, seine Bücher und CDs ausborgen, von seinem Taschengeld etwas abkriegen, sogar sein Fahrrad und sein Handy leiht er dir, ohne mit einer einzigen Wimper zu zucken.
    Als seinen „Denkstein“ hat er den Granitbrocken immer bezeichnet. Erklärt hat er, dass der Granit auf sein Hirn eine positive Wirkung hat und dass er auf dem Stein Gedanken kriegt, die ihm anderswo nie kommen würden. Granit, hat er behauptet, strahlt, und das strahlende Zeug heißt Radon, und dieses Radon flutscht durch seinen Hintern, sein Gedärm und seine Brust ins Hirn rauf und macht es superfit.
    Zecke hat seine Mutter gefragt, ob sie das für möglich hält. Seine Mutter ist nämlich Chemie-Lehrerin. Sie hat gesagt, dass das völlig unmöglich ist, aber wenn sich Glatze das einbildet, soll man ihn ruhig bei seinem Glauben lassen, weil der Glaube Berge versetzen kann. Hauptsache, hat sie gesagt, er hat dort vernünftige Gedanken.
    Glatze ist an die zwei Stunden auf seinem Denkstein gehockt, obwohl es zu regnen angefangen hat und der Wind sich angefühlt hat, als wäre nicht August, sondern November. Und die supertollen Gedanken, die ihm das Radon diesmal ins Hirn raufgeflutscht hat, waren angeblich folgende: Wenn dir das Schicksal eine Liebe aufhalst, bist du dagegen machtlos, da brauchst du gar nicht versuchen, dich zu wehren! Du musst es hinnehmen! Und es ist ohnehin ein Schicksals-Glücksfall, wenn du dich in eine verknallst, die gleich nebenan wohnt, weil sie dann immer in deiner Nähe ist und du dich nicht nach ihr sehnen musst!
    „Angeblich“ sage ich deswegen, weil das alles die Loretta später Locke erzählt hat. Glatze, hat sie behauptet, hat ihr das gestanden. Aber wenn du mich fragst: Es ist schwer zu glauben, dass einer wie Glatze, der nicht gern redet, und schon gar nicht über so Gefühlskram, das gesagt haben soll! Und da es die Loretta mit der Wahrheit nie hundertprozentig genau genommen hat, könnte es leicht sein, dass sie es erfunden hat. Was aber nicht heißen muss, dass es falsch ist.
    Jedenfalls ist Glatze nach zwei Stunden wieder die Böschung raufgeklettert und zur Siedlung zurückgegangen und hat beschlossen, jetzt gleich die neuen Nachbarn zu besuchen. Weil die Loretta noch nicht einmal gewusst hat, wie er heißt. Und weil es nicht schaden kann, wenn er mit ihr schon gut Freund ist, bevor Zecke und Zahn sie sehen. Dann kann er nämlich für den Fall, dass es nötig wäre, sagen: „Finger weg! Die gehört zu mir!“

WIE GLATZE ZUR SIEDLUNG GEKOMMEN ist, hat er schon von Weitem gesehen, dass der Gehsteig vor dem Nachbarhaus vollgerammelt mit Kisten und Bananen-Kartons und Plastik-Steigen und Henkelkörben ist und der Vorgarten mit altem Möbelkram verstellt. Das halbe Inventar vom Berger-Haus ist auf dem ungemähten Rasen versammelt gewesen. Und gehört hat Glatze auch etwas, nämlich: „When it’s springtime in Alaska, it’s forty below ...“ Mit Gitarrenbegleitung.
    Und wenn du bereits bei Hausnummer 50 hörst, welche Musik in Hausnummer 19 gespielt wird, dann kannst du sicher sein, dass es dort affenlaut zu den Fenstern rausdröhnt! Beim eigenen Gartentor dann ist Glatze eingefallen, dass er seiner Mutter die Post hätte reinbringen sollen. Also hat er den Papierpacken zum zweiten Mal aus dem Briefkasten geholt. Normalerweise ist Glatze ja keiner, der sich viel um das schert, was seine Mutter von ihm will. Aber er ist auch keiner, dem es leicht fällt,
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