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Lumpenloretta

Lumpenloretta

Titel: Lumpenloretta
Autoren: Christine Nöstlinger
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hochgezogen, der andere hat Glatzes Sporttasche genommen. Verschlafen ist Glatze zum Streifenwagen getaumelt.
    Zu Mittag hat der Glatze-Vater seinen Sohn vom Polizeiposten Baudorf abgeholt. Mehr als „War das nötig?“ hat er auf der Heimfahrt nicht gesagt. Und eine ausführliche Antwort hat er sich – wie immer – nicht erwartet. Hat ihm gereicht, dass Glatze „Ja!“ gesagt hat.
    Daheim angekommen, hat sich Glatze ohne Gegenwehr von seiner Mutter an die Brust drücken lassen. Dann ist er zu seinem Denkstein gegangen. Mit dem Rad fahren hat er ja nicht können. Das ist noch in der Stadt vor einem Bio-Supermarkt gestanden. Bis es dunkel worden ist, ist Glatze auf seinem Denkstein gesessen und hat das Radon wirken lassen.
    Am nächsten Tag in der Früh ist Glatze wieder wie immer mit Locke, Zecke und Zahn zum Bus geradelt. Auf dem Fahrrad seiner Mutter. Ganz normal ist er den dreien vorgekommen. Überhaupt nicht mehr wie ein Zombie. Gefragt, wo er gestern gewesen ist, haben sie ihn nicht.
    Aber Locke hat es dann doch nicht geschafft, so zu tun, als wäre gar nichts vorgefallen. Wie sie am Abend Glatze ihr Mathe-Heft rübergebracht hat, damit er die Beispiele, die er versäumt hat, nachschreiben kann, hat sie ihn gefragt: „Nervt deine gnä’ Frau wegen gestern?“
    „Nein!“, hat Glatze gesagt und gegrinst. „Die gnä’ Frau ist komischerweise friedlich.“
    Die Glatze-Mutter hat wirklich nicht genervt. Kein einziges vorwurfsvolles Wort hat sie zu Glatze gesagt. Was ihr Sohn getan hat, ist ihr so unbegreiflich gewesen, dass sie es als Anzeichen einer seelischen Krankheit gesehen hat. Und Kranke, ob nun seelisch oder leiblich krank, darf man nicht nerven. Die muss man hegen und pflegen.
    Bevor Locke heimgegangen ist, hat sie tief Luft geholt und gefragt: „Und wie geht es der Loretta?“
    „Danke, gut“, hat Glatze geantwortet.
    „Und dir?“, hat Locke gefragt.
    „Danke, auch gut“, hat Glatze gesagt.

SEITHER IST EIN HALBES JAHR vergangen. Glatze geht es noch immer gut. Aber verändert hat er sich schon.
    Jetzt rasiert er sich eine kreisrunde Glatze und lässt rundherum einen wuscheligen Haarkranz wachsen. Und zu Weihnachten hat er sich eine kleine Geige gewünscht. Einmal die Woche chauffiert ihn seine Mutter zu einem Geigen-Lehrer in die Stadt rein. Der hat zwar gemeint, dass Glatze kein großes Talent zum Geigenspielen hat, aber die Glatze-Mutter hat ihn händeringend angefleht, ihren Sohn trotzdem zu unterrichten, weil sich der nichts sehnlicher wünscht, als geigen zu dürfen.
    An den Abenden, wenn Glatze von Locke, Zecke oder Zahn heimkommt, geht er meistens in sein Zimmer rauf und kratzt auf seiner Geige herum. Und wenn er das tut, hat er sehr viel weiße Schminke im Gesicht und einen riesigen, roten Lippenstiftmund. Und auf der Nase eine rote Schaumstoffkugel. Manchmal zieht er sich auch eine alte, karierte Hose von seinem Vater an, schnallt sich Hosenträger um und schlüpft in große, ausgetretene Latschen von seinem Vater. Und wenn du meinst, dass er dann wie ein Clown ausschaut, liegst du richtig. Glatze trainiert auf Zirkus-Clown!

    Vor dem Einschlafen zieht sich Glatze auch immer Zirkusfilme auf DVD rein. Aber er schaut sich nur die Stellen an, in denen die Clowns vorkommen. Und einen riesigen Spiegel, in dem er sich von Kopf bis Fuß sehen kann, hat ihm seine Mutter kaufen müssen. Den hat ihm sein Vater in seinem Zimmer an die Wand gedübelt. Glatze übt vor dem Spiegel. Er ist eben ein sausturer Bock, der nicht aufgibt.
    So saustur zu sein kriegst du alleine, nur auf dich gestellt, nicht hin. Da brauchst du wen, der dir sagt, dass du das Richtige tust und Erfolg haben wirst, wenn du nicht aufgibst. Einen Menschen, der Glatze in seiner Sausturheit bestärkt, gibt es aber weit und breit nicht. Wenn du mich fragst: Es kann also nur dieses Radon aus dem babybadewannengroßen Granitbrocken sein, das sich Glatze immer noch regelmäßig ins Hirn flutschen lässt! Auch wenn die Zecke-Mutter behauptet, dass sich Glatze bloß einbildet, davon tolle Gedanken zu kriegen. Chemie-Lehrerinnen wissen auch nicht alles.
    Außerdem vergeht die Zeit sowieso schnell.
    Und falls du, so in fünf, sechs Jahren, oder auch ein bisschen später, einmal in einem Zirkus bist, und dort schlägt eine Zirkusprinzessin doppelte Saltos von einem Pferderücken auf einen anderen Pferderücken, und ein Clown fiedelt dazu in der Mitte der Manege ein kleines Lied und stolpert über seine eigenen Hosenbeine, dann schau dir
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