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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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nicht.
    Als die Tür in der vierten Stunde aufgeht und Mamas Gesicht erscheint, fangen meine Zehen an zu kribbeln. Sie sieht aufgequollen und verweint aus. Hinter ihr steht der Schulleiter. Er schmatzt nicht, sein Gesicht ist weiß und die Augen sehr dunkel. Einen winzigen Moment lang denke ich, es sei etwas mit meinem Vater. Und dass ich ihn nie kennengelernt habe, weil ich noch nicht sechzehn bin. Ich stehe auf und gehe auf Mama zu, die mich auf den Flur führt. Der Schulleiter geht in die Klasse und macht die Tür zu.
    Mama tritt vor die Glastür. Sie kniet sich zu mir, hält meine Hände, spricht zu mir. Ich erfahre, wie Micha zusammengebrochen ist, als er von der Polizei geweckt wurde. Er bekam eine starke Beruhigungsspritze, sagt Mama, er ist in einer Klinik. Ich höre ihr zu, aber ich verstehe nicht mehr, was sie sagt. Nur dass niemand Cherrys Heft finden kann. Und dass ihre Tasche auf einem Feld liegt. Ich friere, mir ist übel, meine Ohren sausen. Mama schluchzt. Ihre Tränen empfinde ich plötzlich anmaßend, ihre Umarmungen unerträglich. Ich möchte weglaufen und stoße mit dem Gesicht gegen die Glasscheibe. Mama versucht, mich festzuhalten, aber ich habe das Gefühl, zu ersticken, wenn sie mich nicht loslässt.
    In meinem Zimmer sehe ich mir meine Hefte und Bücher an, meine Kätzchenpostkarten an der Wand und die gesammelten Spielfiguren. Meine Hände zittern ein wenig.
    Mit einem Blick streife ich das Froschlaichglas. Die schwarzen Punkte haben sich aufgerollt, manche wedeln mit dem Schwänzchen, manche fressen an dem Glibber, das zuvor ihre runde Zelle war. Ich habe das eine Glas, das andere steht in Cherrys Zimmer. Ich nehme es langsam, wie in Trance, und schütte alles aus dem Fenster. Glitschig fällt der Froschlaich auf das Gebüsch, ich schmeiße das Glas hinterher. Ein stechender Schmerz durchfährt mich. Die Frösche sind tot und wir werden sie nicht mehr zurück in den Teich bringen, diese Frösche kommen nie wieder.
    Die Leere in mir ist eisig, ich drehe mich vom Fenster weg und fege alle meine Bücher mit einer Hand auf den Boden. Schmeiße die Nachttischlampe um. Trete die Birne mit bloßen Füßen kaputt. Ich fühle nichts dabei. Das Bettzeug landet auf dem Boden, ich trete darauf herum, verwüste mein Zimmer. Ich sehe die Blutspuren auf dem Boden, sie sind überall, und ich öffne meinen Mund und möchte schreien. Aber es kommt keine Stimme heraus. Ich schreie lautlos. Meine Augen bleiben trocken. Ich kann keine einzige Träne weinen.

Kalte Spielzeit
    Lange Zeit liege ich jede Nacht wach. Gelegentlich horche ich, wie Mama in ihrem Zimmer weint. Ich stelle mir vor, wie ich Mama sage, dass sie mir gleichgültig ist, dass mich ihre Oper nicht im Leben interessiert. Ich stelle mir vor, auf wie viel verschiedene Arten ich Cherry von der Sporthalle abholen kann, ich zähle, wie viele Möglichkeiten es gibt, nicht durch den Wald zu laufen, wie viele andere Mädchen denselben Weg vorher gegangen sind, ohne dass etwas passiert ist. Ich stelle mir vor, wie wir uns mit Tuula, Nesrin, Kerkko und sogar Andy befreunden und immer zusammen unterwegs sind. Wie bei Astrid Lindgren, keiner ist je allein. Ich stelle mir vor, ein Riese zu sein.
    Ich habe nie etwas Persönliches über mich im Internet geschrieben. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, zu trampen, wenn ich den Bus verpasst habe. Wenn ich alleine unterwegs war, habe ich darauf verzichtet, Miniröcke zu tragen. Auf mich habe ich immer aufgepasst. Und ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht genug auf Cherry aufgepasst habe. Es fühlt sich an, als gehörte mein Leben nicht mir. Wer entscheidet darüber, wer von uns beiden es mehr verdient, erwachsen zu werden, die Schule zu beenden, mit einem Jungen zu schlafen?
    Ich lege mich unter mein Bett, wickele mich in ein dünnes Laken und verstecke mich tagelang darunter. Mama schafft es nicht, mich hervorzulocken. Ich höre auf zu reden, weil es mir unnötig vorkommt. Auf die Toilette gehe ich nachts oder wenn Mama das Haus verlässt, um einzukaufen. Als sie mir nach einigen Tagen erklärt, dass man in Krankenhäusern zum Essen gezwungen werden kann, krieche ich auf mein Bett und bin bereit, Hühnerbrühe zu trinken. Manchmal versucht Mama, zerdrückte Kartoffeln oder Karotten in die Brühe zu schmuggeln. Ich schüttele nur mit dem Kopf, wenn die Brühe zu dickflüssig ist.
    Irgendwann kommen Tuula und Nesrin. Mama lässt sie rein, und sie grüßen meine Mutter, als wären sie Verbündete. Sie setzen
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