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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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sich zu mir und erzählen irgendetwas von der Schule. Ihre Hände riechen nach Menthol-Zigaretten, ihre Münder hinterlassen Lippenstiftspuren auf den Teetassen. Sie erzählen, dass ein Mann verhaftet wurde. Sie zweifeln daran, dass es dieses schmächtige, unscheinbare Männchen gewesen sein soll.
    »Ein Bauernopfer vielleicht«, sagt Tuula, und mir fällt ein, dass ihr Vater früher mit Micha Schach gespielt haben soll.
    Als sie gehen, stelle ich mir vor, wie ich mich an dem Mörder aus dem Wald rächen werde. Ich schneide ihn in Stücke. Ich schlitze ihn wie einen Fisch auf. Ich werfe Steine auf seinen Bauch. Ich quäle ihn mit Feuer, mit Zangen, mit einem Beil. Ich wünsche ihm den Tod.
    An einem Morgen macht Mama das Fenster in meinem Zimmer auf. Die frische Luft ist angenehm warm, es riecht nach blühenden Bäumen. Ich habe das Gefühl, Schuld auf mich zu laden, wenn ich den sonnigen Duft einatme. Mama kniet vor meinem Bett, verbirgt ihr Gesicht in den Laken und bittet mich um Verzeihung. Es erinnert mich daran, wie oft ich sie schon auf der Bühne habe niederknien sehen. Es fühlt sich falsch an.
    »Du musst mich hassen«, sagt sie. »Ich hasse mich selbst.«
    Dennoch lege ich meine Hand, die eine Tonne zu wiegen scheint, auf ihren Kopf. Mamas Schultern beben heftig. Als sie wieder geht, fasse ich die Stelle an, wo ihr Gesicht war. Sie ist ganz nass. Ich weiß, dass Mama trotzdem froh ist, dass ich an diesem Abend bei ihr war. Ich weiß, sie kann nichts dafür. Aber »es geschieht, was geschehen muss« wird sie nie wieder sagen.
    Eines Tages klingelt es und Andy steht vor der Tür. Er setzt sich zu mir auf den Bettrand und widerwillig richte ich mich ein bisschen auf. Ich möchte nicht wie ein überfahrener Frosch vor ihm daliegen. Andy sagt gar nichts und ich bin froh darüber. Mama bringt uns einen Teller mit kleingeschnittenem Obst. Etwa zehn Minuten bevor Andy geht, legt er seine Hand über meine kalten Finger. Ich tue so, als merkte ich nichts, und Andy lässt seine Hand dort, bis er aufbricht. Als die Tür hinter ihm zufällt, stehe ich auf und gehe ins Bad. Ich möchte mich bloß kurz im Spiegel ansehen. Ich begreife, dass es mir nicht helfen wird, das Monster hinzurichten. Nichts, was dem Monster Schmerzen zufügt, macht seine Tat ungeschehen. Nichts macht es besser. Mir wird schlecht, ich wanke zur Toilette, um zu sehen, ob ich mich übergeben muss. Ich bin erschöpft und völlig verwirrt. Ich brauche keine Rache.
    Ich kann es nicht fassen, aber Mama bringt farbige Papierbögen und Kleber mit. Tagelang basteln wir Collagen, ohne miteinander zu sprechen. An einem Tag mache ich eine menschliche Figur, die wie ein Hefeteig-Männchen aussieht. Das bin ich, aber ich verrate es nicht. Ich schneide das Männchen in Stücke: die Arme und die Beine ab. Hilflos, unfähig, zu stehen, und nicht in der Lage, festzuhalten. Mama klebt die Gliedmaßen mit Pflastern wieder dran. Ich schneide sie wieder ab. Wir wiederholen das immer und immer wieder, mehrere Tage hintereinander.
    Irgendwann sitze ich zum Abendessen wieder am Tisch. Sie ist glücklich, dass ich esse, und stört sich nicht an meinem Schweigen. Sie erzählt mir, dass sie erst seit meiner Geburt begriffen hat, wie kostbar und fragil ein Leben sei. Dass es deshalb zum Beispiel wichtig sei, sich von jedem, der einem wichtig ist, anständig zu verabschieden – egal wie lange oder wie weit man weggeht. Ich habe es viel früher begreifen müssen, denke ich. So viele Lektionen, so viele Regeln. Unglück geschieht immer aus Unachtsamkeit. Wir müssen immer aufpassen. Aber manchmal ist es bloß das Leben, das nicht auf uns Acht gibt.
    Mamas Vertrag soll verlängert werden, aber wir entscheiden uns dagegen. Sie hat ein gutes Angebot in Wien, und ich kann mir nicht vorstellen, hier den Sommer zu verbringen.
    »Wenn es dir dort gefällt«, sagt Mama, »bleiben wir dort. Ich kann unterrichten. Keine Umzüge mehr. Es sei denn, du willst immer noch ins Internat. Du darfst entscheiden.«
    Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich was vormacht.
    »Gut«, sage ich. Mein erstes Wort, seit langem.
    Ich schreibe Micha einen Brief. Ich schreibe, dass es mir leidtut, ihn nie in der Klinik besucht zu haben, und dass ich ihn nie vergessen werde. Ich schreibe, dass ich irgendwann vorbeikomme. Ich erzähle ihm von damals, als Cherry den Kürbis zertrat. Ich schreibe ihm meinen Albtraum. Schreibe, dass Cherry und ich sehr glücklich waren und dass er ein toller Vater ist. Unsicher
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