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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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hinein, essen verwinkelte Gänge in das Baiser. Tagelang bleiben sie da drin, spielen miteinander und essen Süßes, ohne dass jemand dazwischenfunkt. Ich kann mich nicht erinnern, dass Erwachsene in der Geschichte überhaupt vorkommen.
    Mama kauert unbequem auf dem Sitz am Gang. Es sieht vorwurfsvoll aus und soll es auch sein. Unter ihr liegt ein raschelnder Berg auseinandergefalteter Zeitungen. Ich versuche, meine Tut-mir-leid-Miene aufzusetzen, wenn die Stewardess vorbeigeht. Mamas Gesicht strahlt mir aus den Zeitungen entgegen. Das zerknüllte Papiergesicht mit dem immer gleichen Lächeln. Hannah Blumberg steht darunter. Ihr Bild in den Zeitungen wird gern mit »unvergessliches Opernerlebnis« und »stilvoller Auftritt« kommentiert. Ihre Stimme ist etwas Besonderes, sie ist ein »Ausnahmetalent«. Ich für meinen Teil kann nichts Außergewöhnliches. Ich zeichne gerne, aber war im Kunstunterricht nie die Beste. Auch nicht in irgendetwas anderem. Das macht nichts, sagt Mama. Die Künstler seien die Auserwählten, und Künstlerkinder hätten es besonders schwer. Das reiche vollkommen aus. In der letzten Zeit schreiben die Zeitungen auch häufiger von »überraschend kraftvoll« und »gestandene Diva«. Dann wird Mama wortkarg und verbringt viel Zeit im Badezimmer. Auserwählt hin oder her.
    Jetzt mischt sie sich in meine Gedanken ein. Ihre Hand rutscht wie ein langer Fisch in meine Richtung und zupft an mir, als würde sie an einer Türglocke klingeln. Wir tragen die gleichen Pullis, die wir bei der Zwischenlandung in Barcelona geshoppt haben. Mama in einem knappen L, ich in einem großzügigen M. In rot-weißen Mustern sind schwarze, aufgespießte Herzen gefangen.
    »Pik«, sagt Mama, streckt sich und stupst mich mit dem Finger in die Seite. Sie will die Stimmung auflockern.
    »Mir egal«, sage ich und weiche ihren manikürten Fingern aus.
    Ich nehme die Spitze meiner Haarschleife aus dem Mundwinkel, hellblau und feucht. Meine Stirn hat auf der Scheibe einen sichelartigen Abdruck hinterlassen. Ich weiß, was sie will, würde mich aber lieber weiter an das runde Glas lehnen und auf die Zuckerwüste sehen. Zwischen den Wolken schimmert dunkel der Wald. Das Flugzeug neigt sich brummend, verzweigte Wasseradern zeichnen sich durch die Baumkronen ab. Mama sagt, sie könne nicht mehr ohne Bedauern auf die Natur schauen. Weil sie die globale Erderwärmung und die Umweltzerstörung so deprimieren. Unschuldige Tiere verenden und fast keiner unternimmt etwas dagegen. Deshalb heben wir auch jeden Plastikmüll vom Boden auf. Die Menschheit stirbt, flüstert Mama mir manchmal abends ins Ohr, deshalb musst du jeden einzelnen Tag genießen. Ich weiß nie, wie man das schaffen soll. Wenn mir langweilig ist, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Man steht total unter Druck. In den letzten Monaten bin ich zur Schule gegangen, habe abends Hausaufgaben gemacht und viel gelesen. Vielleicht schlage ich Mama lieber vor, nicht mehr so viel zu fliegen.
    Der Wald wird dichter, manche Stellen sind undurchdringlich schwarz. Von dem versprochen Wintereinbruch ist von hier aus nichts zu sehen. In solchen Wäldern leben Monster, wenn es welche gibt. Solche, die den Kindern Angst machen, damit sie auf ihre Eltern hören.
    Ohne die Augen zu öffnen, murmelt Mama mit ihrer honigsüßen Stimme: »Na los, fang an …«
    Als ich als kleines Kind Angst vor Monstern hatte, hat sie mir erklärt, dass es keine gibt. Menschen seien die Monster, sagte sie. Menschen führen Kriege, töten und quälen Tiere. Aber wir beide glauben nicht an den Teufel, auch nicht an Monster, sagte Mama, nur an uns selbst. Ich fand das beruhigend. Auch weil ich keine bösen Menschen kenne. Im Grunde genommen kenne ich überhaupt kaum jemanden – dafür sind wir zu viel unterwegs. Wenn wir Oma besuchen, ist sie meistens zu beschäftigt, wir reden kaum miteinander. Opa ist schon lange tot.
    Ich nehme das aufgeschlagene Buch von meinen Knien und fange an, »ausdrucksvoll« zu lesen.
    »Ausdrucksvoll« ist Mamas Lieblingswort. Es bedeutet, ungefähr dann, wenn mir etwas peinlich wird, beginnt es, ihr Spaß zu machen.
    »Ertastbar mit Fühlwörtern, am Abschiedsgrat«, lese ich laut vor.
    Sobald wir im Flugzeug sitzen, will Mama, dass ich ihr etwas vorlese. Gedichte aus ihrer ledergebundenen Ausgabe. Nicht, weil sie sich langweilt, wie ich, sondern weil es gut für mich sei. Unterhalten möchte sie sich mit mir nie. Sie sei müde, sagt sie dann, und schläft schnell ein. Oder sie
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