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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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sagt, sie müsse noch arbeiten. Oder dass sie auch mal ihre Ruhe brauche. Dass sie ihre Stimme schonen müsse. Dann soll ich was malen und es ihr später zeigen. Als wäre ich fünf.
    Einmal, als ich mich beschwert habe, dass sie nie mit mir reden will, hat sie gesagt, das infantile Wühlen im Selbst wäre nicht ihr Ding. Vielleicht hat es etwas mit der Bühne zu tun. In der Oper kann ich die tiefsten Regungen meiner Mutter betrachten. Sie verbraucht alle Gefühle unter dem Scheinwerferlicht. Danach kommt sie erschöpft nach Hause. Fühlen ist überlebenswichtig, sagt sie, aber es macht schwach im Alltag.
    Ich starre auf die schwarzen Druckbuchstaben und beginne von vorne.
    »Ich kann dich noch sehn: ein Echo, ertastbar mit Fühl-wörtern.«
    Hinten im Flugzeug schreit ein Baby. Mamas Augen klappen auf wie bei einer Puppe, ihre Nase wird spitz. Kinder, speziell Babys, sind auch nicht ihr Ding.
    »Mein Gott, jedes Mal, wenn ich fliege, jedes Mal«, schnauft sie lauter als nötig.
    Missbilligend schaut sie nach hinten. Das Baby bekundet weiter sein Unbehagen gegen die Welt und grunzt schließlich wie ein kleines, erschöpftes Schweinchen. Dumpf höre ich, wie eine Männerstimme monoton alle erdenklichen Tiere aufzählt, die »müüüde« sind. Das Baby scheint es zu mögen und verstummt. Zufrieden, als wäre die neu gewonnene Ruhe ihr Verdienst, wühlt sich Mama wieder in ihren Sitz und sieht mich auffordernd an. Ich mag dieses Buch nicht und ich mag auch nicht länger ausdruckvoll lesen.
    »Fühlwörter? Das verstehe ich nicht«, sage ich.
    »Weil du nur aus Langeweile liest, mein Dodo«, sagt Mama und ich kann mein Gähnen nicht unterdrücken.
    »Ich lese für dich! Bücher ohne Dialoge finde ich öde. Hier sind nicht mal Bilder drin«, sage ich und werde ein bisschen munterer.
    »Diese Gedichte sind hohe Kunst«, antwortet Mama grinsend und schielt zu mir rüber. »Du musst lernen, die Wortbilder zu sehen.«
    Die blonde Stewardess neigt sich höflich über Mamas Platz und reicht ihr ein Glas heißes Wasser. Es ist bereits das fünfte. Mama belohnt sie mit einem wohlwollenden Nicken.
    Die jungen Frauen sind immer begeistert von Mama. Sie denken, sie könnten was von ihr lernen. Ich finde, Mama behandelt sie herablassend. Aber vielleicht ist es genau das. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, ist unser Gespräch gleich vorbei. Ich rutsche zu ihr hinüber, um ihr das Gedicht im Buch zu zeigen. Mama hebt theatralisch ihren Arm in meine Richtung.
    »Bleib, wo du bist, Alice! Ich brauche den Raum …«
    Ich sacke zurück, hole tief Luft und starre wieder auf die aufgeschlagenen Seiten. Das harte Cover bohrt sich in meine Brust.
    »Dein Gesicht scheut leise, wenn es auf einmal … lampenhaft hell wird …«
    Das Gedicht beginnt mich zu ärgern.
    »Verstehe ich nicht!«
    »Das macht nichts«, sagt Mama, »lerne es auswendig. Wenn du älter bist, wirst du dich daran erinnern und weißt sofort, was gemeint ist.«
    Ihre Erklärung macht mich wütend. Genauso wie ihre besserwisserische Erwachsenentonlage. Ich bin schließlich kein Kind mehr. Ich bin vierzehn. Ich spüre, wie meine Ohren rot werden, versuche aber, ruhig zu bleiben. Mama hasst es, wenn man sich kindisch aufführt.
    »Es wird ja so einiges klar werden, wenn ich älter bin«, sage ich.
    Ich weiß erst seit wenigen Stunden, dass wir wieder woandershin ziehen. Mama sagt es mir immer erst im letzten Moment, weil sie abergläubisch ist und sich davor fürchtet, ihr Schicksal zu ändern. Oder ihr Glück zu vertreiben. Die Vorbestimmung ist wankelmütig. Irgendwas ist jedenfalls immer wichtiger, als mich vorzuwarnen.
    »Violetta, Mimi, Leonore, Agathe. Woanders bekomme ich diese Rollen nicht mehr. Das habe ich dir erklärt, und du hast es, glaube ich, schon verstanden.«
    Mama betont jedes Wort. Als ob ich ein trainierter Dackel wäre, der gerade sprechen lernt. Ich weiß, sie stört es, dass ich wieder davon anfange.
    »Ich wäre lieber zu Hause«, sage ich.
    Mama bekommt ein genervtes Gesicht.
    »Nun, Alice, das geht jetzt nicht. Und wie du stets gerne bemerkst, haben wir kein Zuhause.«
    Dann kommt die Pause. Mama hat mir beigebracht, dass ich mich immer auf die Geräusche in meiner Umgebung konzentrieren soll, wenn eine Pause entsteht. Erst wenn ich alle Geräusche zugeordnet habe, darf ich weitersprechen. Mut zur Pause, sagt sie dazu. Ich blättere ziellos in dem Gedichtband.
    »Ich bin nicht mehr die Jüngste, Alice. Wenn ich bei der nächsten Premiere gut bin, wird es
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