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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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zu, wenn die Figuren und Bewegungen stimmen.
    Ich bin nicht dabei, als Cherry die komplizierte Kata vorführt, einen Bewegungsablauf, der einen Kampf gegen imaginäre Widersacher darstellt. Zum Schluss verbeugt sich Cherry und blickt ernst nach unten, während Hannah Blumberg wie eine Königin mit abgezählten Schritten zum Bühnenrand schreitet. Sie hat alles richtig gemacht. Das Licht aus dem Publikumssaal lässt Mamas Konturen verschwimmen. Ich höre, wie der tobende Applaus einsetzt, als würden tausend Steine rollen.
    Cherry geht alleine nach Hause. Über ihre Straßenkleider hat sie ihren grünen Karategürtel gebunden, ihre Schritte sind beschwingt. Cherry läuft den einsamen Waldweg entlang. Sie hält eilig Schritt, hoppelt ab und zu und singt, damit der Weg kürzer wird. Sie weiß nicht, ob ich bereits zu Hause bin oder ob Micha schon wach ist.
    »Iss das Törtchen, schnapp die Sahne, tanz durch Wölkchen, Krokodil! Geh mal schneller, steh mal leiser, dreh dich um, ich red mit dir …«, schmettert sie. Die schwarze Gestalt hinter sich bemerkt sie nicht. Auf dem Weg wechselt Dunkelheit mit hellen Laternenflecken. Cherry entscheidet sich für die Abkürzung durch die Schrebergärten.
    Mama wird mit Blumen überschüttet und beklatscht. Das Publikum erhebt sich. »Hannah Blumberg!«, ruft jemand mit überschlagender Stimme, und der Applaus schwillt an wie ein dröhnender Donner. Mama verbeugt sich so, wie sich Cherry verbeugt hat, ihr laufen Tränen und Schweiß die Wangen hinab, sie sieht links und rechts auf die Seite der Bühne, die anderen Sänger kommen auf sie zu und verneigen sich ebenfalls. Und Cherry steht am Eingang von unserem Tannenbaumhaus. Spärliches Licht leuchtet auf ihr Gesicht, es ist schon ziemlich dunkel. Sie kniet sich auf die feuchte Erde und gräbt die Herzdame frei. Aber die Stelle unter dem Glas ist leer.
    »Lass das Wasser, lass das Bangen und das Zaudern hinter dir – komm und tanz mit mir!«, flüstert Cherry ihr Liedchen automatisch weiter, aber sie spürt, dass sie lieber gehen sollte, dass sie ganz schnell nach Hause muss.
    Ich stehe hinter dem Vorhang. Irgendjemand schubst mich nach vorne. Ich laufe zu Mama, die wieder alleine auf der Bühne steht. Das Publikum klatscht unaufhörlich. Hannah Blumberg drückt mich an sich. Die Hände der Klatschenden sehen aus wie flatternde Vögel. Ich sehe die schwingenden Flügel und für einen Augenblick höre ich das Vogelzwitschern. Die Scheinwerfer blenden mich, ich hebe die Hand vor die Augen. Licht überflutet alles um uns herum, das Klatschen dröhnt. Es wird zum dumpfen Lärm in meinem Kopf.
    Cherry läuft durch Bäume und Büsche vom Tannenbaumhaus zurück zur Straße. Dann spürt sie die Bewegung von der Seite. Dann der Aufprall, Männerhände, die sie festhalten und zu Boden drücken und ihren Hals würgen. Cherry kämpft und versucht Michas geheimen Nasengriff, aber es klappt nicht.
    Überall um uns herum liegen Blumen. Sie duften nicht süß, es riecht chemisch, wie in einer Blumenhandlung. Die Schminke auf Mamas Wangen ist verschmiert, aber vom Publikum aus ist es nicht zu sehen. Ich sehe sie an, die Hand vor den Augen, wie ein Kapitän das Land entdeckt. Sie erwidert meinen Blick. Wir nicken uns zu. So nah wie heute habe ich mich meiner Mutter noch nie gefühlt.
    Eine Taxifahrerin im Rentneralter bringt uns nach Hause. Sie späht freundlich durch den Rückspiegel. Sie weiß nicht, wie wir eben beklatscht wurden, denke ich und finde es seltsam, dass die fremde Frau gar nichts von der Begeisterung weiß, die meine Mutter eben noch ausgelöst hat. Ich liege auf Mamas Knien und genieße meine Müdigkeit und das Geräusch der Straße. Auf Mamas Gesicht wechseln sich Dunkelheit und Laternenlichter ab. Dann setzt der Regen ein und trommelt auf die Scheiben und das Dach. Vor uns leuchten Bremslichter auf, unser Wagen schlittert ein wenig, bevor er zum Stehen kommt. Zu Hause versuche ich, Cherry anzurufen, aber keiner geht ran. Es ist schon spät, vielleicht schläft sie oder feiert ihren Sieg irgendwo in der Stadt mit Micha. Ich freue mich fast, dass sie nicht da ist – ich werte es als ein sicheres Zeichen, dass sie bestanden hat.
    Am nächsten Morgen versucht Andy vergeblich, meinen Blick zu erhaschen. Tuula und Nesrin tuscheln, während die Lehrerin etwas in ihre Mappe einträgt. Kerkko zeigt mir sein neues Diabolo, das aus seiner Tasche ragt. Cherrys Platz ist in der zweiten Stunde noch immer leer und auch in der Pause kommt sie
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