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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
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Sie kennt diesen Ton und weiß, dass ich sie etwas fragen will.
    »Hast du …« Ich zögere. »Hast du dir je gewünscht, wir könnten einfach weglaufen?«
    Mina Ma sieht mich lange Zeit unverwandt an. Dann setzt sie sich neben mich. Ihr Gesicht ist angespannt. »Es wäre dein Tod.« Sie streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. In ihrer Berührung liegt eine ganze Welt von Worten, Gedanken und Gefühlen, die alle auf einen Punkt konzentriert sind wie ein Lichtstrahl, den man zum Himmel richtet, um auf einen bestimmten Stern zu zeigen. »Weglaufen hieße, deine Daseinsberechtigung zu zerstören. Die Meister hätten das Gefühl, dass sie dir nicht mehr vertrauen können. Sie bräuchten sich nicht einmal mit deinen Nenneltern beraten. Sie würden einfach ihre Häscher ausschicken und dich töten.« Die Stimme an meinem Ohr klingt geradezu flehend. »Lauf nicht weg.«
    »Nein«, sage ich. »Aber dieses Tattoo und alles, manchmal wird mir das einfach zu viel. Und ich würde gerne wissen, ob es dir ab und zu auch so geht. Ich habe nicht vor wegzulaufen. Ich kenne die Geschichte von dem Mädchen, dem Echo, das vor Jahren fortgelaufen ist. Ich weiß, dass die Jäger sie gefunden und die Meister sie auseinandergenommen haben.«
    Mina Ma räuspert sich ein wenig verärgert. »Du hast Erik und mich offenbar ganz ›zufällig‹ darüber sprechen hören.«
    Ich werde rot.
    Aber sie nickt nur. »Schon gut«, sagt sie. Sie mustert mich mit einem scharfen Blick. »Dann weißt du wenigstens, was der Preis wäre.«
    Bevor sie geht, stelle ich noch eine letzte Frage.
    »Warum haben meine Nenneltern mich in Auftrag gegeben? Sie könnten dafür ins Gefängnis kommen. Und ich könnte ja ganz anders sein als ihre Tochter. Warum also das Risiko eingehen?«
    Mina Ma lächelt ein wenig. »Das hast du mich schon tausendmal gefragt.«
    Ich zucke mit den Schultern und warte.
    »Weil der Gedanke, ihre Tochter zu verlieren, ihnen unerträglich ist.«
    Aber wie immer, wenn ich die Frage stelle, genügt mir diese Antwort nicht. Wenn Amarra sterben würde, was würde ihre Familie bekommen? Mich. Nicht Amarra. Wie kann ein solcher Ersatz das Risiko wert sein, das sie eingegangen sind?
    Ich weiß, dass es eigentlich anders sein sollte. Aber ich bin eben nicht vollkommen. Das sind wir alle nicht, alle Echos, die es derzeit gibt, sind nur eine Übergangslösung. Das eigentliche Ziel der Meister ist es, eines Tages die menschliche Seele von einem Leib in den anderen verpflanzen zu können. Dann wird es Echos geben, die Gefäße der menschlichen Seele sind. Sie werden friedlich schlafen wie Dornröschen oder Schneewittchen, jahrelang, vielleicht auch für immer. Es sei denn, ihre Anderen sterben und sie werden gebraucht. Dann sterben die Anderen zwar körperlich, aber ihr Geist, ihre Seele, überlebt. Sie wird im Echo wiedererwachen, in ihrem Ersatzkörper. Wir dagegen sind anders. Wir haben eigene Gedanken und Gefühle. Das ist ein Makel. Die Meister arbeiten noch daran, uns zu vervollkommnen. Immerhin haben wir das Gesicht, die Stimme, ein wenig von der Haut und einige geistige Eigenschaften unserer Anderen. Das muss vorerst genügen.
    Ich sehe zu, wie sich die Tür hinter Mina Ma schließt, und will nicht mehr an Unvollkommenheit, Tattoos und Schlafbefehle denken. Ich nehme noch einen Scone, lecke den Rahm an den Rändern ab und wende mich meinen Hausaufgaben zu.
    Nachdem ich mit dem Aufsatz über Romeo und Julia fertig bin, lese ich Amarras Tagebuchseiten. In der vergangenen Woche sind ein paar Dinge passiert, die ich auswendig lernen muss. Eine Tante von ihr ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich den Knöchel gebrochen, die Physikarbeit lief schlecht und ihre kleine Schwester Sasha hatte Fieber.
    Ich lege die Seiten weg und studiere die neuen Listen. Einige Bücher darauf sind neu, andere haben wir beide schon gelesen. Vielleicht liest Amarra Schokolade zum Frühstück diesmal ja zu Ende.
    Vor ein paar Monaten hätte ich sie deshalb umbringen können. Sie hatte das Buch aus dem Bücherregal ihrer Mutter gezogen und halb gelesen, dann kam etwas dazwischen und sie las nicht weiter. Mina Ma musste mir das Buch mit Gewalt aus den Händen reißen.
    Auf der Filmliste sehe ich Sinn und Sinnlichkeit . Es ist das dritte Mal, dass ich mir den Film ansehen muss. Amarra hat eine Leidenschaft für Jane Austen, die ich nicht teile. Unwillkürlich denke ich, wenn man uns beide in diese Geschichte verpflanzen würde, wäre sie sicher der Sinn und Verstand
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