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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
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informieren müssen – sie hat es aber nicht getan.
    Erik sagte nicht viel, aber sein enttäuschtes Gesicht sprach Bände. »Wir können nicht beliebig oft für dich lügen«, sagte er. »Wir können dich nicht schützen, wenn du gegen die Gesetze der Meister verstößt.«
    Entschuldigung , lag mir auf der Zunge, aber es erschien mir unpassend. Es war sowieso egal, Erik war noch nicht fertig. »Und ich denke nicht nur an die Meister. Was ist mit den Kindern? Hast du keine Angst, sie könnten ihren Eltern erzählen, dass sie ein Echo entdeckt haben? Die Menschen reden.«
    Ich wusste, vor wem er wirklich Angst hatte. Vor den Jägern. Dass sie von mir erfahren könnten. Aber offenbar haben die Kinder nichts gesagt oder Erik hat verhindert, dass sie es tun, denn seitdem ist nichts passiert. Es gab keine Hexenjagd, keine brennenden Fackeln vor der Haustür, keine lautlosen nächtlichen Überfälle.
    Ich sehe die Morgenpost durch, die unter dem Briefschlitz an der Haustür liegt. Zwei Rechnungen für Mina Ma und eine leere Postkarte für mich. Ich weiß, dass sie von Sean ist, meinem jüngsten Vormund. Sonst bekomme ich von niemandem Post. Sean weiß das und schickt mir einmal im Monat eine Postkarte, dabei wohnt er weniger als eine Stunde von uns entfernt. Ich habe die Karten mit einer Schnur zusammengebunden und zwischen Oliver Twist und Der Page und die Herzogin ins Regal gesteckt.
    Sean hatte damals klargemacht, dass er die Prügelei auch nicht für eine besonders kluge Idee hielt. Sein Ton ärgerte mich und obwohl er es nicht verdient hatte, sagte ich pampig: »Dich hätten sie bestimmt fertiggemacht.«
    »Danke, aber so schnell lasse ich mich nicht fertigmachen«, erwiderte er. »Und darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich derjenige von uns beiden bin, der noch essen kann, ohne dass ihm alles wehtut.«
    Dagegen war nicht viel einzuwenden.
    Ich sehe fern, bis Mina Ma aufwacht und geschäftig aus ihrem Zimmer kommt. Wir machen Frühstück: Eier und Speck. Ich mag keine Eier. Es liegt am Dotter. Die Art, wie das Eigelb herausquillt, macht mich krank. Beim Abspülen der Teller vermeide ich nach Möglichkeit, es zu berühren.
    Mina Ma lacht. »Sei nicht hysterisch, Kind. Das ist nicht ansteckend.«
    Es ist so typisch für sie, dass sie im selben Atemzug lacht und mit mir schimpft. Ich liebe sie mehr als alles auf der Welt. Sie kam vor fast fünfzehn Jahren aus Indien, als die Meister ihr eine Stelle als meine Betreuerin anboten, und seitdem leben wir zusammen in diesem Haus. Sie hat mich großgezogen. Damals, als sie mich von der Meisterei abholte, hat sie mich gleich ins Herz geschlossen. Und umgekehrt schloss ich sie ins Herz, nachdem sie einen Arzt, der von mir als »Es« sprach, mit dem Nudelholz aus dem Haus gejagt hatte.
    Wir räumen das Frühstücksgeschirr in den Schrank und es ist Zeit für meinen Unterricht. Ich hole meine Bücher und Hefte und staple sie ordentlich aufeinander.
    Der Unterricht ist wenig abwechslungsreich. Ich beschäftige mich tagaus, tagein mit einem Mädchen, das weit weg wohnt. Sie ist das Original, das ich kopiere. In meinen Gedanken ist sie immer da. Alles, was ich tue, hängt von ihr ab. Und von ihren Eltern, meinen Nenneltern. Sie haben mich bei den Meistern in Auftrag gegeben.
    Ich lerne, was meine Andere lernt, und esse, was sie isst. Mina Ma bringt mir jeden Tag ein paar Kleinigkeiten bei. Wie man Reis im Dampfkochtopf zubereitet. Wie man indische Namen und Wörter richtig ausspricht. Sie erzählt mir von Bangalore, wo meine Andere lebt. Ich würde mich in dieser Stadt inzwischen blind zurechtfinden. Dienstags und freitags kommt Ophelia vorbei und checkt mich durch. Sie stellt mir Fragen, untersucht mich und nimmt mir Blut ab. Niemand könnte behaupten, sie sei medizinisch qualifiziert. Das Kopfrechnen fällt ihr schwer, Instrumente und Tabellen machen ihr Mühe und ich höre sie wegen der »schwierigen Wörter« oft leise vor sich hin schimpfen. Aber sie versteht genug von Echos, um sich um meine Gesundheit zu kümmern. Mir ist sowieso nur wichtig, dass sie nett und lustig ist und dass ich ihr vertrauen kann.
    Montags, mittwochs und donnerstags unterrichtet mich Erik zu Hause in Fächern wie Englisch und Mathe. Er hält sich dabei an die Lehrbücher und Unterrichtspläne, die meine Nenneltern von der Schule ihrer Tochter beschaffen. Er informiert mich über Neuigkeiten im Leben meiner Anderen und hilft mir, jedes Detail auswendig zu lernen. Außerdem erzählt er mir von
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