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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
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und ich die Sinnlichkeit. Und egal wie oft ich mir den Film ansehe, der Verstand siegt jedes Mal.
    Ich lese das Tagebuch noch einmal, um sicher zu sein, dass ich auch nichts übersehen habe. Kurz vor der Stelle mit dem Tattoo höre ich auf. Wenn Erik oder Ophelia mir in der nächsten Unterrichtsstunde Fragen zum Tagebuch stellen, werde ich alle richtig beantworten können.
    »Was hat Amarra im Coffee Day gegessen?«, werden sie mich beispielsweise fragen. Und Ophelia wird wahrscheinlich hinzufügen: »Was ist das überhaupt für ein Café, Liebes? Ist es nett da?«
    »Sie hat einen Brownie mit Vanilleeis gegessen. Sie geht oft mit Freundinnen dorthin, sie hat schon mehrmals davon erzählt.«
    »Wer hat ihr in der Schule eine halbe Flasche Saft über das Bein geschüttet?«
    »Sonya, aber aus Versehen. Sie mussten beide so lachen, dass der Lehrer mit ihnen geschimpft hat.«
    »Welcher Lehrer?«
    Und so weiter. Die Fragen sind ungefähr so aufregend wie Zähneputzen. Aber ich merke mir alles und gebe immer die richtige Antwort. Wenn wir mit den Fragen fertig sind, macht Ophelia Tee oder ich spiele mit Erik Karten und wir tun eine Weile so, als seien wir eine ganz normale Familie und ich ein ganz normaler Mensch.
    Ich lasse die Blätter auf den Boden fallen, lösche das Licht und krieche unter die Bettdecke. Ich versuche einzuschlafen, aber vor meinem inneren Auge sehe ich die Kinder aus der Stadt, die mir die Lippe blutig schlagen, und eine Frau im Supermarkt, die mit einem Schauder vor mir zurückweicht, als Mina Ma versehentlich verrät, was ich bin. Ich sehe einen trüben Spiegel und ein Tattoo und ein Mädchen mit blutunterlaufenen Augen. Mich? Oder das Echo, das damals weggelaufen ist und deshalb sterben musste? Ich fröstele im Dunkeln.
    Es ist so still, dass ich höre, wie Mina Mas Bett im Zimmer nebenan quietscht, wie das Wasser in den Leitungen rauscht, wie eine Eule ruft und wie etwas leise knarrt. Ich öffne die Augen wieder und blickte zum Fenster. Hinter dem Haus liegt der Garten und das Knarren kommt von der Schaukel, meiner Schaukel, die hin und her schwingt.
    Meine Vormünder haben mir die Schaukel zum siebten Geburtstag geschenkt. Beim Aufwachen am Morgen stand sie da wie von Zauberhand. Ich habe Stunden darauf zugebracht, bin in die Luft hinaufgeflogen oder habe mich nur zurückgelehnt und zum Himmel aufgeblickt.
    Ich liege im Dunkeln und denke an die Prügelei mit den Kindern. Ich denke an Mina Ma, die will, dass ein Mädchen stirbt, weil sie glaubt, dass mich das rettet. Und ich denke an die Schaukel. Meine Vormünder hätten sie mir nicht schenken müssen, es war ein Zeichen ihrer Zuneigung – trotz all meiner Fehler. Es war ein seltenes, kostbares Geschenk, wie Echos es in dieser Welt, die uns verachtet, nicht oft bekommen.

3. Ein Name
    D a bist du ja«, sagt Sean.
    Ich drehe mich um und sehe ihn an. Er wartet am oberen Ende des Wegs. Die Sonne steht als orangefarbene Kugel hinter ihm, sodass ich kaum mehr als eine Silhouette sehe.
    Ich kenne ihn seit einem Jahr. Davor war sein Vater Jonathan mein Vormund. Doch dann wurde in Jonathans Gehirn ein Tumor entdeckt und er musste aufhören zu arbeiten. Irgendwie haben Erik und Jonathan die Meister dazu gebracht, seinen Sohn, einen sechzehnjährigen Schüler, als Nachfolger zu akzeptieren. Als Jonathan vor neun Monaten starb, dachte ich, Sean würde jetzt nicht mehr kommen, und war doppelt traurig. Ich wollte nicht beide verlieren. Aber dann kam er doch. Am Wochenende nach der Beerdigung seines Vaters tauchte er auf und ich schlich wie auf Zehenspitzen um ihn herum und hatte schreckliche Angst, etwas Falsches zu sagen, bis er mit mir schimpfte und sagte, ihn solle ihn nicht behandeln wie einen Aussätzigen. Seitdem erscheint er regelmäßig wie ein Uhrwerk jedes zweite Wochenende.
    Es dauert ein paar Sekunden, bis er den Weg heruntergekommen ist und vor mir am Seeufer steht. Ich habe nicht mit ihm gerechnet.
    »Ich dachte, du wolltest dieses Wochenende nicht kommen«, sage ich. »Hat morgen nicht deine Freundin Geburtstag?«
    Seine Freundin heißt Lucy und geht in dieselbe Klasse wie er. Sie sind beide sechzehn, ein Jahr älter als ich. Bei seinem letzten Besuch hat er mir nach langem Drängen ein Foto von ihr gezeigt. Sie sieht tatsächlich älter aus als ich. Wunderschön, selbstbewusst, reif. Sie und Sean gehen jetzt seit drei Wochen miteinander. Sie mag Hunde und arbeitet ehrenamtlich in einem Secondhandladen für wohltätige Zwecke. Ich habe sie
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