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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
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darin entdecke ich Besorgnis. Ich glaube ihm. Er weiß nicht, was sie mit uns machen würden, aber er weiß, dass ich ihnen gehöre und sie mich jederzeit auslöschen können, wenn ich mich ihnen widersetze.
    Sean gehört niemandem, was aber nicht heißt, dass er aus dem Schneider wäre. Vormunde dürfen uns nicht helfen, die Regeln zu brechen. Wenn sie gegen ein Gesetz verstoßen, können die Meister sie ebenfalls bestrafen.
    »Sie werden nichts davon erfahren«, sage ich.
    »Natürlich nicht«, bekräftigt Sean. »Und jetzt iss deinen Brokkoli, der ist gut für dich.«
    Ich kriege die ganze Nacht kaum ein Auge zu. Diesmal gehören meine Träume mir, was nicht immer so ist. Manchmal träume ich auch von Ereignissen aus Amarras Leben, von Erinnerungen und Gefühlen, die durch Risse ihres Bewusstseins in meines eindringen. Wie damals, als der Hund sie gebissen hat. Die Erinnerung an diesen schrecklichen Moment beschäftigte sie wochenlang. Oder, als sie sich wahnsinnig in einen Popstar verknallt hat und ich tagelang von seinem Gesicht träumte.
    Erik meint, das sei normal: Die Meister hätten mir bei meiner Erschaffung auch etwas von Amarra eingepflanzt und deshalb würden sich manchmal Spuren ihrer Erinnerungen oder Gefühle auf mich übertragen.
    Ich träume von seltsamen Dingen, nicht vom Zoo, wie ich es erwartet habe, sondern von einem stillgelegten Jahrmarkt in einer verlassenen, dunklen Stadt. Von in Grün gekleideten Männern und Frauen, die auf Trapezen hin und her schwingen, Elefanten, die sich auf die Hinterbeine stellen, und bunt geschminkten Clowns. Jedes Mal, wenn ich aufwache, habe ich vor Angst Herzklopfen. Die Clowns in meinen Träumen sehen den Meistern gespenstisch ähnlich.
    Im Zug am nächsten Tag kann ich vor lauter Aufregung nicht still sitzen. Ich hüpfe auf meinem Platz auf und ab und remple Sean an, der mich mit einer Mischung aus Belustigung und Verzweiflung mustert. Aber ich kann mich nicht beherrschen. Ich habe Windermere seit meiner Ankunft als Baby nicht verlassen. Jetzt bleibt die vertraute Stadt hinter uns zurück und macht einer idyllischen Landschaft Platz. Sie gleicht einem Postkartenmotiv, mit niedrigen Mäuerchen und Hügeln, die von Schafen gesprenkelt sind.
    »Wie schön das aussieht«, sage ich leise.
    Sean macht mich auf Dinge aufmerksam, zum Beispiel die Steinmäuerchen, die es, wie er sagt, nur im Norden gibt. Im Süden sieht man sie selten.
    »Warst du schon oft im Süden?«
    »Hin und wieder«, sagt er. »Vor allem in London, auch in Cornwall. Früher bin ich mit meinen Eltern in den Ferien immer dorthin gefahren. Und einmal waren wir in Ägypten. Da sind Echos auch nicht erlaubt, deshalb musste Dad lügen, wenn ihn jemand nach seiner Arbeit fragte. In Kairo habe ich Kinder kennengelernt, die nicht einmal wussten, dass es Echos überhaupt gibt.«
    »Fahren du und deine Mutter in den Ferien jetzt nicht mehr weg?«, frage ich. Sean hatte von »früher« gesprochen.
    Er schüttelt den Kopf.
    »Geht es ihr gut?«, frage ich vorsichtig.
    Er zuckt die Schultern. »Mein Vater fehlt ihr.«
    »Dir auch, oder?«
    »Ja. Und dir?«
    »Ich verdränge es«, gestehe ich. »Aber ich muss immer wieder an diesen Abzählreim denken, den Mina Ma mir früher vorgesungen hat. Du weißt schon, den mit den fünf kleinen Entchen. Wie sie eines Tages fortgehen, über den Hügel und weit weg. Und wie die Entenmutter quakt, aber nur vier zurückkommen.«
    Ich will lächeln, aber in meinem Hals steckt ein großer Kloß. »Es ist albern, aber ich denke immer, dass Jonathan das Entchen ist, das nicht zurückkommt. Und in dem Lied geht es weiter, bis keins mehr da ist.«
    »Aber du weißt, wie es endet, ja?«
    »Mina Ma musste immer mittendrin aufhören, weil ich mich so aufgeregt habe.«
    »Dummerchen«, sagt Sean. »Am Schluss geht die Mutter den Entchen über den Hügel nach und quakt, und alle fünf Entchen kommen zurück.«
    »Wirklich?«
    Er lacht. »Ja, wirklich.«
    Ich lache auch.
    Als wir durch Lancaster fahren, sehe ich besonders aufmerksam aus dem Fenster. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Sean hier seinen Alltag verbringt, an diesem Ort mit seiner malerischen Burg, den gepflasterten Straßen und den alten Brücken. Ich erlebe ihn immer nur in unserem Haus am See.
    Es ist schon fast Mittag, als wir endlich in Blackpool ankommen. Sean scheint sich auszukennen und ich folge ihm nach draußen und zur nächsten Bushaltestelle. Ich rieche das Meer, rieche Salz, Fisch und Essig.
    »Was
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