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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
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»Offenbar ist sie …«
    »Schwierig«, rate ich.
    »Ja. Wenn alle zusammen sind, rempelt sie die anderen Jungen an und kämpft und sorgt für Unfrieden. Deshalb kommt sie in ein eigenes Gehege, wenn sie gerade besonders schwierig ist.«
    »Aber dadurch wird sie sich nicht bessern«, sage ich überzeugt. »Sieh sie dir an. Sie ist ein Dickkopf. Man muss sie so nehmen, wie sie ist.«
    In Seans Stimme liegt ein Lächeln. »Du magst sie.«
    Ich nicke abwesend.
    Nach einer weiteren halben Stunde trenne ich mich schweren Herzens von den Elefanten und folge Sean in Richtung Reptilienhaus. Für eine Weile habe ich die Meister ganz vergessen. Jetzt sind sie wieder da. Ich dränge sie in die hinterste Ecke meines Bewusstseins, aber ihre Gesichter, an die ich mich vage erinnere, tauchen beharrlich immer wieder auf.
    Wir kaufen eine Tüte Popcorn und eine Cola für uns beide und spazieren essend und trinkend auf und ab. Ich sauge geräuschvoll an meinem Strohhalm.
    »Welche Richtung?«, fragt Sean an einer Abzweigung. »Reptilien oder Vögel?«
    »Ist eine Schildkröte ein Reptil?«
    »Wahrscheinlich mehr Reptil als Vogel«, sagt Sean grinsend. »Also in diese Richtung.«
    Auf dem Weg vor uns geht ein Mädchen. Es hat schwarze Haare und dunkle Augen wie ich. Es fällt hin und fängt an zu heulen. Ihr Vater beugt sich über es, küsst es aufs Knie und entlockt ihm ein Lachen. Aus irgendeinem Grund muss ich in diesem Augenblick an den Meister denken, der mich geschaffen hat, und dass er mich nie aufheben wird, wenn ich stürze.
    Ich sehne mich so sehr danach, ein Mensch zu sein, dass es wehtut.
    »Sieh mich an«, sagt Sean und sein Ton macht klar, dass er weiß, was ich denke. »Du bist anders. Das wussten wir schon immer. Aber das muss nichts Schlechtes sein. Dass du anders bist, heißt nicht, dass du weniger wert bist als wir.« Ich will etwas sagen, aber er lässt mich nicht zu Wort kommen. »Und es heißt auch, dass du eben nicht Amarra bist. Du bist jemand anders. Und du bist wichtig, als Mädchen , nicht als Echo. Und zwar für uns alle, egal was die Meister sagen.«
    Ich starre ihn an. »Ich wollte immer ein Mädchen sein. Nur ein Mädchen, kein Echo.«
    »Für mich bist du kein Echo.«
    »Aber trotzdem bleibe ich eins.«
    »Und? Was ist daran so schlimm? Du springst ein, wenn jemand stirbt. Im Grunde ist das doch genial. Du bist ein Engel unter Sterblichen. Echos opfern alles, um eine andere Familie, andere Menschen glücklich zu machen. Du gibst ihnen Hoffnung. Du bist die Hoffnung.«
    Er zeigt auf das Mädchen und seinen Vater auf dem Weg vor uns. »Stell dir vor, wie traurig er wäre, wenn seiner Tochter etwas zustieße. Wenn sie dagegen ein Echo hätte, fände er in ihm vielleicht seine Tochter wieder. Er würde sie zurückbekommen.«
    So habe ich das noch nicht gesehen.
    »Dad hat gesagt, wenn er für jeden Menschen, den er liebt, ein Echo machen lassen könnte, würde er es tun.« Sean sieht mich an. »Du darfst dich nicht für das, was du bist, schämen. Oder dafür, dass du anders bist. Du solltest darauf stolz sein.«
    Ich sehe ihn lange an und er mich, bis neben und hinter ihm alles verschwimmt und ich nur noch ihn scharf sehe.
    Dann vibriert sein Handy und der Bann ist gebrochen. Er liest die Nachricht. »Von Lucy«, sagt er.
    Lucy. Es dauert kurz, bis ich wieder weiß, wer das ist. Ich habe für einen Moment völlig vergessen, dass er eine Freundin hat.
    Ich muss trotzdem lächeln. Weil mir noch nie jemand solche Sachen gesagt hat. Ich sehe den Vater und seine Tochter an, aber diesmal nicht neidisch oder sehnsüchtig. Stattdessen stelle ich mir vor, dass der Vater das kleine Mädchen verliert wie eins der fünf kleinen Entchen, die über den Hügel verschwinden, und wie ein gutes, ein vollkommenes Echo es ersetzen könnte. Ich bin zwar nicht vollkommen, aber ich kann anderen Hoffnung geben. Ich kann das sein, was den Verlust des kleinen Entchens ein wenig lindert.
    Die Vorstellung löst zwar nicht alle meine Probleme und ändert vielleicht auch gar nicht viel, aber etwas schon. Sie zwingt mich zu einer anderen Perspektive. Zum ersten Mal sehe ich mich mit den Augen eines anderen.
    Ich bin nicht wie die anderen und ich bin auch nicht Amarra, aber ich kann jetzt zu meinem Anderssein stehen, ohne mich zu schämen.
    Sean steckt sein Handy ein. »Es scheint dir wieder besser zu gehen«, sagt er und lächelt schief. »Also bin ich doch zu etwas nütze.«
    »Ich wollte immer einen eigenen Namen haben, schon ganz
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