Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Autoren: Wolfram Ströle
Vom Netzwerk:
gut.« Mina Mas Augen funkeln belustigt »Dann kann ich dir ja genauso gut noch etwas Nützliches beibringen.«
    Zehn Minuten später steht sie am Rand eines Nervenzusammenbruchs. »Halt doch wenigstens einmal still«, ruft sie. »Ich kenne kein Kind, das so zappelig ist wie du.«
    Ich gehorche, so gut ich kann, und unterdrücke mein völliges Desinteresse, während sie mir eine lange Bahn aus Chiffon um die Hüften wickelt und mir zeigt, wie ich den Stoff in ordentliche, straffe Falten lege. Einfach zu tun, was andere mir sagen, liegt mir nicht. Ich versuche es, aber ständig fallen mir alle möglichen unpassenden Fragen und Einwände ein.
    »Mina Ma«, sage ich, »wenn du meine Meinung dazu hören willst …«
    »Will ich nicht.«
    Ich beiße mir auf die Zunge, platze aber schon im nächsten Moment mit meiner Bemerkung heraus: »Also, meiner Meinung nach brauche ich das alles überhaupt nicht zu lernen. Wozu muss ich wissen, wie man einen Sari anlegt?«
    Mina Ma zerrt an meiner Bluse. Sie schnürt mir die Brust ein und ich schnappe nach Luft. Vorwurfsvoll sehe ich sie an, aber sie sagt nur: »Du wirst dieses Wissen noch brauchen. Zum Beispiel musst du einen Sari anlegen können, wenn du zu einer Hochzeit gehst.«
    »Das werde ich nie«, erkläre ich.
    »Doch. Wenn du deine Andere bist.«
    »Aber dazu wird es nie kommen. Meine Andere ist jung und gesund.«
    »Auch junge und gesunde Menschen haben Unfälle, oder? Sie stürzen die Treppe hinunter, fallen vom Baum oder werden von einem Panther zerfleischt.«
    »Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen?«
    Mina Ma zieht an dem Chiffon und drapiert ihn mir über die Schulter. »Du sollst leben, bis du steinalt bist«, sagt sie. »Ich will nicht, dass du in zehn oder zwanzig Jahren aus dem Verkehr gezogen wirst, nur weil deine Andere dich loswerden will oder weil du deine Nenneltern verärgert hast oder weil einfach keiner mehr glaubt, dass man dich noch brauchen wird. Die Welt ist voller Gefahren und ich will dich nicht verlieren. Ich will nicht, dass dir jemand den Schlafbefehl erteilt.«
    Erik hat mir vor Jahren einmal vom Schlafbefehl erzählt. Offiziell heißt es »Antrag auf Beseitigung«, aber die meisten sagen dazu einfach Schlafbefehl. Irgendjemand fand wohl, es klinge netter. Aber egal wie man es nennt, es läuft auf dasselbe hinaus: Wenn ein Auftraggeber für ein Echo den Schlafbefehl beantragt, beendet er damit dessen Leben. Er gibt es dem Hersteller zurück wie ein nutzloses oder defektes Spielzeug. Das Echo kommt dann wieder zu den Meistern. Sie haben das letzte Wort. Sie können damit machen, was sie wollen, sie könnten es behalten, aber stattdessen zucken sie nur bedauernd mit den Schultern und lassen es sterben.
    »Zerquetscht wie eine Mücke«, sagt Mina Ma, als hätte ich laut gedacht. »Du lebst von der Gnade der Meister, aber nur solange du ihren Erwartungen entsprichst. Kapierst du nicht, in welcher Gefahr du schwebst? Aber wenn du deine Andere ersetzt, bist du vielleicht sicher. Du könntest deine Nenneltern glücklich machen und dann behalten sie dich für immer. Hoffe darauf, dass dieser Fall eintritt, auch wenn du es nur für mich tust, Kind.«
    »Ich kann nicht wünschen, dass sie stirbt!«
    »Dann wünsche ich es mir«, sagt Mina Ma unbarmherzig. »Ich kenne sie nicht und ich liebe sie nicht.«
    Wir starren einander böse an. Mina Ma ist stark und stämmig, ich bin eher klein und schmächtig. Ihre braune Haut ist dunkler als meine. Mein Gesicht ist schmal, ihres rund und verschmitzt. Trotzdem denke ich, wir könnten verwandt sein. Wir haben beide schwarze Haare. Ihre reichen bis zum Kinn, meine sind länger, so wie die Haare meiner Anderen. Wir haben beide dunkelbraune Augen mit langen Wimpern und schöne schwarze Augenbrauen. Und unsere Augen können wild funkeln. Mina Ma kann einen erwachsenen Mann mit einem einzigen Blick einschüchtern. Grimmig dreinzublicken, habe ich von ihr gelernt.
    Jetzt wendet sie den Blick als Erste ab, was selten ist. Sie steckt die letzten Falten des Sari fest und tritt einen Schritt zurück.
    »So geht es«, sagt sie.
    Ich nehme den Sari wieder ab und sie faltet den Stoff über dem Arm zusammen. Dann geht sie zur Tür. Ihre heftigen Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Offenbar fürchtet sie, ich könnte ihr jeden Moment weggenommen werden. Meine Nenneltern könnten beschließen, dass sie mich nicht mehr brauchen, und ich könnte beseitigt werden.
    »Mina Ma?«
    Ihre runden, dunklen Augen richten sich auf mich.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher