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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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Doch das beste an dieser kleinen Landzunge waren die Fische.
    Der Fluß war hier breit, seicht und klar. Viele verschiedene Fische schwammen in diesem Wasser. Forellen und Lachse gab es im Überfluß. Man konnte von hier aus bequem die Netze auswerfen.
    »Die Menschen, die hier leben«, meinte Segovax' Vater oft, »werden nie Hunger leiden müssen. Der Fluß wird immer für sie sorgen.« Manchmal saß Segovax neben seinem Vater am Flußufer, nachdem sie die Netze ausgeworfen hatten, und blickte auf die Zwillingshügel an der gegenüberliegenden Seite. Angesichts der wechselnden Gezeiten – tagtäglich floß die Strömung flußaufwärts, hielt am Höhepunkt der Flut inne und verebbte dann wieder zum Meer hin – sagte sein Vater dann stets zufrieden: »Siehst du, der Fluß atmet!«
    Segovax liebte es, seinem Vater zuzuhören. Er war sehr wißbegierig, und sein Vater unterwies ihn gerne. Mit fünf hatte er gelernt, Fallen in den nahen Wäldern zu stellen, mit sieben konnte er eine Hütte mit den Gräsern aus den nahen Sümpfen decken; er konnte mucksmäuschenstill im seichten Wasser stehen und einen Fisch mit einem geschärften Stock aufspießen. Er kannte viele Geschichten über die zahllosen keltischen Götter und konnte durch viele Generationen hindurch die Vorfahren seiner Familie wie auch die der großen Häuptlinge der Insel aufzählen. In den letzten zwei Jahren hatte sein Vater begonnen, ihn in einer weiteren Fertigkeit zu unterweisen. Er hatte für den Jungen einen richtigen Speer mit einem leichten Schaft und einer Metallspitze angefertigt. »Wenn du eines Tages ein Jäger und Krieger sein willst«, hatte er lächelnd gesagt, »dann mußt du mit einem Speer umgehen können.«
    Es verging kaum ein Tag, an dem der Junge nicht seinen kleinen Speer auf ein Ziel schleuderte. Bald traf er jeden Baum in seiner Reichweite. Es dauerte nicht lange, da zielte er auf Hasen, wenn auch meist ohne Erfolg. Einmal wurde er dabei ertappt, wie er die kleine Branwen einen langen Stock, an dessen Ende eine Zielscheibe steckte, halten ließ, auf die er seinen Speer warf. Da wurde selbst sein freundlicher Vater böse auf ihn.
    Sein Vater war sehr klug. Und doch hatte Segovax, als er älter wurde, noch etwas anderes an ihm bemerkt: Obwohl er drahtig war, war sein Vater mit seinem schmalen Gesicht, seinem schütteren braunen Bart und seinem krummen Rücken nicht so stark wie viele der anderen Männer. Dennoch bestand er bei den Gemeinschaftsarbeiten stets darauf, genausoviel zu leisten wie alle anderen. Oft sah er blaß und erschöpft aus, nachdem er viele Stunden lang geschuftet hatte, und Segovax merkte, wie die Mutter den Vater besorgt musterte. Doch wenn sich an den Sommerabenden alle um das Feuer versammelten, sang sein Vater die bilderreichen Lieder ihres Volkes, und manchmal begleitete er seine Lieder auf der einfachen keltischen Harfe. Dann wich jegliche Anstrengung in seinem Gesicht einem Ausdruck magischer Heiterkeit. So kam es, daß Segovax bereits mit neun Jahren seinen Vater nicht nur liebte und bewunderte, sondern in seinem Herzen wußte, daß er ihn auch beschützen mußte.
    Nur etwas hatte ihm sein Vater bisher vorenthalten. Segovax hatte noch nie das Meer gesehen. »Wann fährst du einmal mit mir den Fluß hinab?« fragte Segovax alle paar Monate. Und sein Vater erwiderte dann stets: »Eines Tages, wenn ich nicht so viel zu tun habe.«
    Der einzige Schatten, der sich in diese sonnigen Tage drängte, war die gelegentlich düstere Stimmung der Mutter. Sie war immer etwas launisch gewesen, und deshalb waren weder Segovax noch seine Schwester sehr beunruhigt darüber. Doch dem Jungen kam es so vor, daß es schwieriger als sonst war, für ihre Launen eine Ursache zu finden. Manchmal schimpfte sie mit ihm oder Branwen völlig grundlos, dann wieder langte sie plötzlich nach dem kleinen Mädchen und drückte es fest an sich, bevor sie es ebenso rasch wieder von sich stieß. Einmal brach sie in Tränen aus, nachdem sie sie beide für irgendein Vergehen geohrfeigt hatte. Und wann immer der Vater da war, fiel dem Jungen auf, daß die Mutter ihn beobachtete, jede seiner Bewegungen verfolgte.
    Der Frühling ging in den Sommer über, und noch immer gab es keine Neuigkeiten über Cäsars Ankunft. Doch wenn der Junge seinen Vater fragte: »Wenn die Römer kommen, kommen sie dann auch hierher?« antwortete der Vater immer: »Ja, ich glaube, sie müssen hier vorbeikommen.« Aus einem einfachen Grund: die Furt. Sie lag bei der Insel,
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