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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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die nichts von ihrem schrecklichen Geheimnis wußten. Doch bald würden sie es erfahren. Wie würden sie es wohl aufnehmen?
    Der Druide blickte forschend auf das Wasser, während der Einbaum flußaufwärts glitt. War der Schild vom Fluß angenommen worden, oder trieb er noch immer an der Oberfläche? Der Druide seufzte. Er war ein sehr alter Mann, fast siebzig Jahre alt, doch in seiner Größe noch immer eine beeindruckende Erscheinung, ein Riese im Vergleich zu den meisten anderen Männern. Sein voller weißer Bart reichte ihm bis zur Taille; seinen Kopf schmückte ein schlichter goldener Stirnreif; seine Augen waren grau und wachsam. Einmal im Jahr vollzog er auf dem westlichen der beiden Hügel von Londinos das Ochsenopfer. Er betete in den heiligen Hainen der Eichenwälder. Im Landesinneren gab es sonderbare Steinkreise, Tempelanlagen, die so alt waren, daß niemand wußte, ob sie von Menschenhand erbaut worden waren, und dort hatten sich wohl vor langer Zeit die Druiden getroffen. Doch hier am Fluß vollzogen sie ihre Riten meist vor kleinen Holzschreinen oder in heiligen Hainen.
    Dieser alte Druide hatte eine besondere Gabe, die anderen Priestern nicht gegeben war: Die Götter hatten ihm das zweite Gesicht verliehen. In seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr war ihm diese sonderbare Gabe zuteil geworden. Er selbst wußte nicht, ob er sie als Geschenk oder als Fluch betrachten sollte. Manchmal hatte er nur schattenhafte Vorahnungen, dann wieder sah er zukünftige Ereignisse mit erschreckender Klarheit, und es kam vor, daß er genauso blind wie alle anderen war.
    Er lebte nicht weit von hier. Dort, wo die über zweieinhalb Meilen lange Gerade des Flusses endete, begann eine der vielen majestätischen Windungen; diese führte genau im rechten Winkel nach Süden, bevor sie wieder nach Osten abbog. Und eben hier hatte sich der Fluß geteilt und eine flache, fast rechteckige Insel geschaffen, einen ruhigen Ort, an dem Eichen, Eschen und Dornenbäume wuchsen. Hier lebte der Druide seit dreißig Jahren allein in einer einsamen, bescheidenen Hütte.
    Oft besuchte er die Weiler am Fluß, wo man ihn immer ehrerbietig empfing. Manchmal rief er unvermittelt einen Dorfbewohner wie Segovax' Vater herbei und befahl ihm, ihn viele Meilen flußaufwärts zu einem heiligen Ort zu rudern. Eine kleine Rauchfahne verkündete, wenn er auf seiner Insel weilte, und die Leute in dieser Gegend betrachteten ihn als eine Art Wächter des Ortes.
    In dem Moment, in dem sie in die Flußbiegung einfuhren und die Insel vor sich sehen konnten, erblickte der alte Mann den Schild. Er funkelte noch immer knapp unterhalb der Wasseroberfläche. Der Alte sah ihn nachdenklich an. Der Fluß hatte das Opfer nicht eindeutig zurückgewiesen, es aber auch nicht angenommen. Das Zeichen schien zu der Vorahnung zu passen, die der alte Mann vor einem Monat gehabt hatte.
    Sein zweites Gesicht hatte ihn an diesem Morgen auch noch andere Dinge sehen lassen. Er hatte Cartimanduas schreckliches Dilemma wahrgenommen. Nun sah er auch voraus, was das Schicksal mit dem stillen Fischer vorhatte. Und seine Vorahnung hatte ihm noch ein viel schrecklicheres Ereignis angekündigt. Konnte es tatsächlich sein, daß die Götter dieser uralten Insel Britannien vernichtet werden sollten? Oder sollte etwas anderes, etwas für ihn völlig Unbegreifliches passieren? Alles war sehr sonderbar.
    Den ganzen Frühling über wartete Segovax. Jeden Tag erwartete der Junge Botschafter auf schäumenden Pferden. Doch niemand kam. Ab und zu erreichten Gerüchte über die Invasionsvorbereitungen den Weiler, doch noch war nichts davon zu bemerken.
    Die kleine Siedlung, in der die Familie lebte, war ein beschaulicher Fleck. Das halbe Dutzend kreisrunder Hütten mit Strohdächern und Lehmfußböden war umgeben von einem aus Ruten geflochtenen Zaun, an dem auch zwei Ställe für die Tiere und mehrere auf Pfählen ruhende Vorratshütten standen. Der Weiler befand sich nicht an der Spitze der Landzunge, wo die Druiden gewartet hatten, sondern etwa fünfzig Meter davon entfernt. Wenn die Landzunge bei Flut zu einer Insel wurde, war der Weiler völlig isoliert, doch das bekümmerte keinen. Der Boden bestand aus Kiesgrund wie die beiden gegenüberliegenden Hügel und war fest und trocken. Im warmen Frühlingswetter trocknete der sumpfige Boden am südlichen Ufer aus; dann grasten dort die Pferde und die Weidetiere, und Segovax und seine kleine Schwester spielten mit den anderen Kindern auf den Wiesen.
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