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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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auf seine Familie: die kleine Branwen, die so liebenswert war, doch manchmal auch unbändige Trotzanfälle haben konnte, der kleine Junge in den Armen seiner Mutter; seine Mutter, die in letzter Zeit oft sehr blaß und sonderbar geistesabwesend wirkte. Am Ufer lag ein bescheidenes Floß, daneben standen zwei Männer. Einer davon war sein Vater. Er hatte die gleiche weiße Haarsträhne wie sein Sohn, die gleichen großen Augen, und er war so vertraut mit dem Fluß, so erfahren mit seinen Netzen, daß die Leute ihn nur den Fischer nannten. Andere Männer waren wohl stärker als dieser stille Mann, doch niemand war freundlicher und entschlossener als er. »Der Fischer gibt nie auf«, pflegten die Leute im Weiler zu sagen. Segovax wußte, daß die Mutter den Vater abgöttisch liebte. Und auch er liebte ihn abgöttisch. Aus diesem Grund hatte er sich am vorherigen Tag einen waghalsigen Plan ausgedacht, der ihn das Leben kosten konnte.
    In wenigen Momenten würde die Sonne aufgehen, und ein großer, funkelnder Lichtstrahl würde vom Osten her den Fluß herauftanzen. Die fünf Druiden stimmten einen leisen Gesang an. Auf ein Zeichen hin trat ein Mann aus der Menge hervor. Er hatte einen kräftigen Körperbau, und sein dicker, grüner Umhang, sein Goldschmuck und seine stolze Haltung wiesen auf seine Bedeutung und edle Herkunft hin. Er trug einen flachen, rechteckigen Metallgegenstand in den Händen, das er dem großen, weißbärtigen Druiden in der Mitte der Gruppe überreichte.
    Die Druiden wandten sich dem rotleuchtenden Horizont zu, und der ältere Mann aus ihrer Mitte bestieg das Floß. Die beiden neben dem Floß wartenden Männer – Segovax' Vater und ein weiterer Mann – kletterten neben ihm auf das Floß und begannen, es mit langen Stangen auf den breiten Fluß hinauszustaken. Das dumpfe Summen der vier zurückgebliebenen Druiden schien geheimnisvoll zu wachsen und sich über das Wasser auszubreiten, während das Floß sich immer weiter entfernte.
    Die Sonne ging auf und überflutete den Fluß mit goldenem Licht. Das Floß befand sich nun in der Mitte des Flusses; die zwei Männer stemmten sich mit ihren langen Stangen gegen die Strömung und hielten das Floß damit an. Am Nordufer wurden die beiden niedrigen Hügel in das rötliche Licht der Sonne getaucht. Nun hob der große Druide den metallenen Gegenstand über seinen Kopf, so daß es die Sonnenstrahlen einfing und zurückwarf.
    Es war ein aus Bronze gefertigter Schild. Die Waffen auf der Insel wurden zwar meist aus Eisen gefertigt, doch für die rituellen Waffen, die mit großer Kunstfertigkeit hergestellt wurden, benutzte man Bronze, ein Material, das älter, doch auch leichter zu bearbeiten war. Dieser Schild war ein wahres Meisterwerk; der große Fürst Cassivelaunus hatte ihn durch einen seiner engsten Vertrauten überbringen lassen. Die verwobenen Muster und die eingelegten Edelsteine waren beispielhaft für das hervorragende Metallhandwerk der Kelten, für das die Insel berühmt war. Der Schild war das größte Geschenk, das die Inselbewohner den Göttern machen konnten.
    Nun schleuderte der Druide den Schild hoch über das Wasser in die gleißende Spur, die die Sonne gezeichnet hatte. Schweigend empfing der Fluß das Opfer. Doch dann passierte etwas Merkwürdiges: Der Bronzeschild ging nicht unter, er schwamm vielmehr knapp unterhalb der Wasseroberfläche. Dies hatte einen einfachen Grund: Das Metall war sehr dünn getrieben und auf der Unterseite mit einem leichten Holz verstärkt worden. Bis das Holz sich voll Wasser gesaugt hatte, mußte der rituelle Schild dort oben treiben, nur von einer dünnen Schicht Wasser bedeckt.
    Und noch etwas Unvorhergesehenes passierte: Die Gezeiten wechselten. Die Strömung floß nun flußaufwärts bis zu einem Punkt mehrere Meilen hinter Londinos. So trieb der Schild langsam ins Landesinnere der Insel, als würde er sanft von einer unsichtbaren Hand gezogen werden. Der alte Druide beobachtete dies und fragte sich, was es angesichts der schrecklichen Bedrohung wohl bedeuten mochte.
    Die Bedrohung kam aus Rom. Sie trug den Namen Julius Cäsar.
    In den Jahrtausenden seit dem Rückzug der letzten Eiszeit hatten mehrere Völker die Insel Britannien zu ihrer Heimat erkoren – Jäger, Bauern, Errichter steinerner Tempel wie Stonehenge und in den letzten Jahrhunderten Stämme, die zu der großen keltischen Kultur aus Nordwesteuropa gehörten. Die Dichtkunst und das Liedgut der Barden, die umfangreiche Volkskunst und die
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