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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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erstreckte sich eine lange Halbinsel mit hohen Kreidehügeln und fruchtbaren Tälern.
    Bei Flut kehrte sich die Strömung des Flusses um; dann strömte das Wasser in den sich verengenden Trichter der Mündung hinein und noch eine ziemliche Strecke flußaufwärts, so daß sich der Wasserstand um einiges erhöhte. Wenn die Flut zurückwich, floß dieses Wasser rasch wieder ab. Die Folge war ein starker Tidenhub in den unteren Bereichen des Flusses, bei dem der Wasserstand bis zu vier Metern schwankte.
    Als sich die Insel formte, lebten auf ihr bereits Menschen, und in den darauffolgenden Jahrtausenden überquerten weitere Menschen die gefährlichen Meere. In jener Zeit begann die eigentliche Menschheitsgeschichte.
54 v. Chr.
    Vierundfünfzig Jahre vor Christi Geburt bildeten etwa zweihundert Menschen einen Halbkreis am Ufer des Flusses und warteten nach einer kalten Frühlingsnacht auf das Morgengrauen. Vor ihnen standen am Rand des Wassers fünf schweigende, in lange, graue Roben gekleidete Männer, die Druiden. Sie wollten einen Ritus vollziehen, der die Insel retten sollte.
    Unter den Leuten, die sich da am Ufer versammelt hatten, befanden sich drei, von denen jeder ein persönliches, schreckliches Geheimnis hütete – ein Junge, eine Frau und ein sehr alter Mann.
    Am langen Flußlauf gab es viele heilige Orte, doch nirgends war die Seele des großen Flusses so spürbar wie an diesem stillen Fleck. Hier trafen sich der Fluß und das Meer. Flußabwärts strömte der Fluß in einer Reihe von großen Biegungen durch offenes Marschland, bis er sich nach etwa zehn Meilen in den langen, nach Osten führenden Trichter der Mündung und schließlich in die Nordsee ergoß. Stromaufwärts wand sich der Fluß durch Wälder und üppig grüne Wiesen. An dieser Stelle jedoch befand sich zwischen zwei großen Biegungen ein zweieinhalb Meilen langer, gerader Flußabschnitt; hier strömte der Fluß majestätisch kerzengerade nach Osten. Während der Flut war diese Flußstraße 900 Meter breit, während der Ebbe nur 270. In der Mitte ragte eine Kiesbank aus dem Fluß, die bei Ebbe zu einer Landzunge wurde, bei Flut zu einer Insel. Auf dieser Bank stand die kleine Gruppe. Ihr gegenüber auf dem Nordufer lag der inzwischen verlassene Ort, der den Namen Londinos trug.
    Im Morgengrauen war die Silhouette des uralten Ortes klar zu erkennen: zwei niedrige Kieshügel, die oben flach waren und etwa 2 5 Meter über den Wasserspiegel emporragten. Zwischen den beiden Hügeln floß ein kleiner Bach. An der Westseite strömte ein größerer Fluß hinab in eine breite Mündung, die das Nordufer durchbrach. An der Ostseite der beiden Hügel hatte sich einst eine kleine Hügelburg befunden, auf derem niedrigen Erdwall Wachposten nach Schiffen Ausschau hielten, die vom Meer her den Fluß heraufkamen. Der westliche Hügel wurde manchmal von den Druiden benutzt, wenn sie Ochsen opferten.
    Eine verlassene Siedlung. Ein heiliger Ort. Die Stämme, über die der große Fürst Cassivelaunus herrschte, lebten in der großen östlichen Ebene oberhalb der Flußmündung. Der Stamm der Cantii, der auf der langen Halbinsel südlich der Mündung lebte, hatte dieser Gegend bereits den Namen Kent gegeben. Der Fluß war die Grenze zwischen ihnen, Londinos eine Art Niemandsland.
    Vom Meer herauf kam ein kalter Wind. Der Junge zitterte. Er stand nun schon eine Stunde lang und fror. Er trug ein schlichtes Wollhemd, das ihm bis zu den Knien reichte und um die Taille mit einem Ledergürtel zusammengehalten wurde. Neben ihm standen seine Mutter, ein Baby in den Armen, und seine kleine Schwester Branwen, die er an der Hand hielt.
    Er hatte dunkle Haare und blaue Augen, wie die meisten in seinem Volk, den Kelten. Sein Name war Segovax, und er war neun Jahre alt. Bei genauerer Betrachtung hätte man zwei ungewöhnliche Dinge an ihm bemerkt. In seinen Stirnlocken leuchtete eine weiße Haarsträhne. Solche vererbten Merkmale kamen bei mehreren Familien vor, die in dieser Gegend des Flusses wohnten. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, hatte ihm seine Mutter gesagt, »viele Frauen denken, das ist ein Glückszeichen.«
    Die zweite Auffälligkeit war sehr viel sonderbarer: Wenn der Junge seine Finger spreizte, zeigte sich in den Zwischenräumen bis hin zum ersten Fingerglied eine dünne Hautschicht, wie die Haut am Fuß einer Ente. Auch dieses Merkmal war vererbt, wenngleich es nicht in jeder Generation auftrat. Es störte den Jungen jedoch nicht weiter.
    Segovax blickte
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