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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung
Autoren: Kathrin Gerlof
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Langeweile bekommen kann.

|32| 3. Kapitel
    Veronika hat den zweiten Brief ohne Absender aus dem Kasten gezogen. Jetzt sitzt sie, anstatt Tapeten zu kaufen, in einem Café neben dem Tapetenladen und überlegt, ob sie den Umschlag aufreißen soll. Und flüstert.
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr, wo ich ihn nicht hab, ist mir das Grab, die ganze Welt ist mir vergällt, mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt.
    Ihr fällt die Melodie nicht ein. Die hat sie einmal gekannt. Schubert oder Schumann. Sie hat es doch gesungen, früher. Als sie eine Diva werden wollte. Eine, die den Leuten Tränen der Rührung und Begeisterung in die Augen singt. Schubert. Es muss Schubert gewesen sein. Und sie hat es gut singen können. Wo ist jetzt, da sie so nötig gebraucht wird, die Melodie?
    Veronika holt noch einmal den Brief von gestern aus der Handtasche.
    Wahrscheinlich fragst du dich, wer ich überhaupt bin, dass ich etwas von dir haben möchte. Veronika. Es tut ganz und gar nichts zur Sache, wer ich bin. Wichtig ist nur, wer ich hätte sein können. Das wirst du mir eines Tages erklären müssen. Wer ich hätte sein können. Angst musst du nicht haben. Ich ängstige mich genug für uns beide.
    Die Zeilen kommen ihr angesichts des zweiten Briefumschlages viel subtiler und bedrohlicher vor als gestern. Gestern waren sie vor allem seltsam. Und sie hatte sich anscheinend auf die beiden letzten Sätze verlassen. Angst |33| musst du nicht haben. Ich ängstige mich genug für uns beide.
    Veronika bestellt einen Sekt und einen Milchkaffee. Sie wartet, bis beides vor ihr auf dem kleinen Bistrotisch steht, dann reißt sie den Umschlag auf. Wieder liegt nur ein beschriebenes Blatt darin.
    Veronika, ich bin sicher, du hast nicht auf diesen Brief gewartet. Aber ich werde dir nun öfter schreiben. Es ist so eine Art Katharsis für mich, das zu tun. Das musst du nicht verstehen. Es hat für dich weniger Bedeutung als für mich. Kannst du dich noch erinnern, wie du vor zwei Jahren versucht hast, deinen Mann zu verlassen? Du bist bis zum Hauptbahnhof gekommen. Und da hast du gestanden und ewig auf einen Zugfahrplan gestarrt. Zwei Züge fuhren in dieser Zeit ab, einer nach Hamburg und ein Regionalzug, der das ganze Elend auf die Dörfer bringen sollte. Du bist nicht gefahren. Hast deinen Koffer genommen und bist wieder heimgekehrt. Was für ein schönes Wort. Heimgekehrt.
    Wie hat dich Hanns damals empfangen, an diesem Abend? Egal. Ich hätte es besser gemacht. Glaube mir. Ich hätte dich mit allem Pomp empfangen, und dann hättest du mir Rede und Antwort stehen müssen. Vielleicht werden wir das irgendwann einmal auch wirklich tun. Du kehrst bei mir ein, nicht zu mir heim. Und ich stelle dir Fragen. Aber bis dahin leben wir beide einfach unser Leben weiter.
    Angstlos und folgenlos. Wie findest du das?
    Veronika findet es nicht gut. Aber es gibt niemanden, dem sie das sagen könnte. Sie faltet das Blatt zusammen, bis es zu einem winzigen Rechteck geschrumpft ist. So lässt es sich besser ertragen, denkt sie. So ist es gut. Diesmal behält sie den Briefumschlag. Wegen der Fingerabdrücke, flüstert Veronika und fängt an zu kichern. Vielleicht sind ja |34| Fingerabdrücke drauf, wiederholt sie. Dabei ist es Unsinn, das zu denken. Sie weiß ja, wer sich ihr nähert.
    Vor ihr steht die Kellnerin, der sie offensichtlich signalisiert hat, dass sie bezahlen möchte. Die scheint schon Dümmeres gehört zu haben und verzieht keine Miene. Veronika bezahlt und gibt reichlich Trinkgeld. Dann geht sie in den Tapetenladen nebenan.
    Der Laden ist riesig und leer. An den Wänden hängen an hübschen plastikbunten Halterungen Tapetenrollen. Man kann sie anfassen und ein Stück Tapete abrollen. Um das Muster zu sehen. Veronika arbeitet sich systematisch durch den Laden. Sie dreht eine ganze große Runde und zieht von jeder Rolle ein Stück Tapete nach unten. Die Tapeten, die ihr gefallen, lässt sie ausgerollt, die anderen rollt sie wieder ein. So behält sie den Überblick. Mitten im Verkaufsraum steht ein weißer Schreibtisch, darauf ein weißer Computer. Eine junge Frau sitzt davor. Ihre Jeans hängt so tief auf den Hüften, dass Veronika die Poritze sehen kann. Gerahmt von einem weißen Baumwollrand. Veronika meint, irgendwo gelesen zu haben, dass dies jetzt wieder angesagt ist. Weiße gerippte Baumwollunterwäsche, die sich sehen lassen soll.
    Am Ende bleiben sieben Tapetenrollen übrig,
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