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Lisa

Lisa

Titel: Lisa
Autoren: Thomas Glavinic
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ist Ruhe. Wenn sie das dort macht, kriegt sie eine reingehauen, und zwar richtig, nicht metaphorisch, die hauen ihr eine auf die Nase, die sind imstande und schlagen ihr die Zähne ein, diese Jungs. Sie ist eine, die hier immer Rot oder Grün gewählt hat, mal so, mal so, eine Linke definitiv. Sie sagt, dort würde sie stark rechts wählen. Weit rechts. Weil das Problem so massiv ist, und keiner etwas unternimmt.
    Ich frage mich, was soll man ihr sagen. Soll ich hingehen und den Guten spielen und anfangen, von Gegenmodellen und alternativen Lösungen zu reden? Wahrscheinlich würde ich dort genauso denken wie sie, irgendwann. Wie tolerant und aufgeschlossen man ist, hängt sehr davon ab, ob man das Glück hat, an einem Ort zu leben, wo man sich diese Toleranz leisten kann.
    Also, wollte ich nur sagen. Hilgert ist nicht ausländerfeindlich.
    Er war immer unberechenbar. Ich an seiner Stelle wäre nun, wo er die Beweise hatte, wo er wusste, diese brillante Theorie der verunreinigten Genstäbchen, die schon in allen Zeitungen und Fernsehnachrichten war, die ist Nonsens, ich wäre da wohl ins Kommissariat marschiert und hätte aufgetrumpft. Aber das war dem natürlich viel zu unspektakulär.
    War der wütend! Er wollte es ihnen zeigen, und er wollte es ihnen ganz zeigen. Er hatte nämlich bereits die nächste Idee, doch dazu brauchte er mehr Informationen.
    …
    Ich muss zu dem von vorher noch was sagen. Nur damitdas angesprochen wird. Der Stillstand im öffentlichen Diskurs über heikle Themen.
    Ein großes Problem liegt darin, dass alle Angst haben, für einen Nazi gehalten zu werden. Auf den ersten Blick ist das vor allem positiv. Nichts führt so leicht zum gesellschaftlichen Ruin wie der Verdacht, der Vorwurf, ein Nazi zu sein. Gleichzeitig verhindert aber diese Angst jede offene Diskussion. Zum Beispiel existieren in unseren Städten Parallelgesellschaften, ist das denn wirklich gut? Zum Beispiel leben hier Menschen, denen unsere Kultur im besten Fall egal ist, die zum Teil nach vierzig Jahren hier noch immer kein Wort Deutsch können. Ist das gut?
    Doch es gibt diese Diskussion nicht, oder höchstens hinter vorgehaltener Hand, und keiner wagt sich aus der Deckung. Damit bleibt nur eine Meinung auf dem Spielfeld, und das ist die der Rechten, die haben wenigstens eine. Die anderen haben in Wahrheit keine. Wenn sie ein bisschen nachdenken würden, kämen sie drauf, dass sie doch eine haben, nur dass ihnen nicht alles an ihrer Meinung gefällt. Und wenn sie schon soweit sind, könnten sie gleich mal weiterdenken.
    Und ich könnte mal nachdenken, warum ich schon wieder eine neue Tüte holen gehen muss. Ich habe das Koks eigens im Holzkeller deponiert, damit ich jedesmal runter muss und es mir vielleicht aus Faulheit besser einteile, und jetzt gehe ich schon zum vierten Mal heute da runter. Das bringt es also auch nicht.
    …
    Zurück. Oha. Nein, gebt mir noch ein paar Minuten.
    …
    Also. Hilgert. Seine Idee.
    Damit begann die stille Phase. In der er abtaucht. Auch ich kriege ihn kaum zu Gesicht. Ich war sogar mal bei Chang, ich habe seine Nummer nicht, ich frage ihn zwischen den gackernden Hühnern und Massen von Maiskörnern und Stroh, ob er weiß, was los ist, weil Hilgert am Telefon immer so abwesend wirkt. Der Chinese antwortet uoooh, uoooh, Hil-ger Buch, uoooh. Hil-ger Buch, Buch, Buch.
    Hat Hilgert mir später an der Raststation bestätigt. Er liest, redet mit seinen Leuten in Linz, fährt umher, redet mit Menschen, die Lisa angeblich gesehen oder eben nicht gesehen haben. Genau habe ich bis heute nicht erfahren, was er alles unternommen hat. Ich weiß bloß, was herausgekommen ist.
    …
    Mir war plötzlich wahnsinnig kalt. Habe mir einen … Dings geholt, wie heißt das noch mal.
    …
    Die Frau, die ich liebe, ist die einzige, mit der ich kein Mitleid habe.
    …
    Wenn ich mir vorstelle, dass er sich nicht mehr meldet und sie ihn wahrscheinlich gekriegt hat, wird mir ganz schlecht vor Wut. Ich dachte, wenn einer nicht, dann der. Der niemals. Den hält kein Teufel auf. Na ja. Wie man sieht, doch.
    Ich gehe einen heben. In die Küche. Das Fenster mache ich fledermaussicher, und später komme ich wieder. Gebt mir eine Stunde. Ich denke darüber nach, ob ich überhaupt damit herausrücken soll.
    Ich kann nicht einmal sagen, warum ich zögere. Wahrscheinlich, weil es so hässlich ist. Weil es alles, was ist, in einanderes Licht taucht. Weil es die Dinge, die sind, so unverständlich macht, und mich und euch und alle
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