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Lindenallee

Lindenallee

Titel: Lindenallee
Autoren: Katrin Rohde
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Mutter half. Das kann man bestimmt nicht mit Ihrer Situation vergleichen, oder?" Paula kam sich beinahe privilegiert vor, eine leichte Kindheit gehabt zu haben. Kaum vorzustellen, wie es früher gewesen sein musste. „Wollen Sie mir ein wenig erzählen, wie es früher war? Ich kann es mir gar nicht richtig vorstellen."
    „Gerne, wenn Sie es interessiert?"
    Paula nickte bejahend.
    „Na gut. Wenn ich Sie langweile, sagen Sie Bescheid."
    „Wird bestimmt nicht passieren.“
    „Nun gut.“ Frau Wagner lehnte sich zurück und beschloss ganz am Anfang zu beginnen.
     
    Geboren wurde ich 1925. Ich war das siebte Kind. Können Sie sich das heute noch vorstellen? Sieben Kinder? Meine Mutter hatte bereits zwei Kinder kurz nach der Geburt verloren, also war ich streng genommen das neunte Kind. Die Älteste war meine Schwester Gertrud. Als ich auf die Welt kam, war sie schon dreizehn Jahre alt. Ich glaube, sie hatte es am schwersten von uns allen, denn von ihr wurde erwartet, dass sie meiner Mutter unter die Arme griff und sich nebenbei um uns Geschwister kümmerte. Und das war nicht immer einfach, kann ich Ihnen sagen, denn meine anderen Geschwister waren allesamt Brüder. Einige waren richtige Rabauken, wie es Jungen in dem Alter sind.
     
    „Leben Ihre Geschwister noch?", unterbrach sie Paula.
    „Nein, leider nicht. Mein zwei Jahre älterer Bruder Heinz ist vor vier Jahren gestorben. Heinz war mir ein lieber Freund gewesen, mit dem ich viel Zeit in meiner Kindheit verbracht habe. Die letzten Jahre habe ich ihn wenig gesehen. Er ist in den fünfziger Jahren in die USA ausgewandert.“
    Magarete machte eine kurze Pause. „Er flog einmal im Jahr nach Deutschland und besuchte mich. Die letzten Jahre hat es sein gesundheitlicher Zustand nicht mehr zugelassen, also haben wir telefoniert. Er hatte ein gutes Leben in Amerika, er hat dort eine Familie gegründet und seine Kinder sind längst selber Großeltern. Leider habe ich keinen Kontakt zu ihnen, aber es ist schön zu wissen, dass der Name Wagner dort weiterleben wird." Frau Wagner brach ab, die Erinnerung an den Verlust ihres Bruders schmerzte sie nach den Jahren immer noch schwer.
    „Aber bitte, erzählen Sie doch weiter", bat Paula leise die alte Dame.
    Frau Wagner fasste sich einen Moment, während Paula sich fest vornahm, sie nicht mehr zu unterbrechen.
     
    Wo war ich stehen geblieben? Meine Brüder. Sie haben es uns Mädchen nicht leicht gemacht, sie zogen uns an den Haaren und versteckten unsere Puppen. Unter Puppen darf man sich nicht die Puppen vorstellen, die es heutzutage gibt. Meine Mutter hat aus Stoffresten ganz wunderbare, kleine Puppen genäht, die wir abgöttisch liebten. Meine Schwester Gertrud hat mir, als sie sechzehn wurde, alle Puppen geschenkt. Sie hat es schweren Herzens getan. Sie fing an, als Bedienung in einem Gasthaus in einem Nachbarort zu arbeiten und ich glaube, damals hat sie mit ihren Puppen auch ihre Kindheit abgegeben. Ich habe sie nie über die Arbeit klagen hören, immerhin konnte sie damit die Eltern unterstützen. Sie mussten ein Kind weniger versorgen und das bisschen Lohn, was sie bekam, hat sie der Mutter gegeben. Es waren andere Zeiten.
    Ich konnte mich nie an den Spruch „Früher war alles besser" gewöhnen. Meist sind die Erinnerungen nur verschwommen, vor allem an die schlechten Dinge. Aber ich will nicht klagen. Mir erging es bestimmt besser als anderen Kindern von den kleinen Höfen, denn meine Eltern ließen uns in die Dorfschule gehen. So lernte ich Lesen und Schreiben. Stellen Sie sich vor, Sie hätten nie Lesen gelernt! So gesehen waren wir sicherlich privilegiert gegenüber anderen Kindern, die dazu verdammt waren, wie ihre Eltern den Hof weiterzuführen. Es gibt doch noch mehr auf dieser Welt, als einen Bauernhof in Lucklum. Meinen Sie nicht auch?
     
    Frau Wagner sah Paula an, die ihr gespannt gelauscht hatte. Bislang hatte sie keine Anstalten gemacht Fragen zu stellen. Sie hatte stattdessen genickt, fragend eine Augenbraue hochgezogen oder ein zustimmendes „Hmmm" von sich gegeben. Jetzt wartete sie darauf, dass sie weiter erzählen würde und Frau Wagner tat ihr gerne den Gefallen.
     
    Mein Bruder Heinz, den es später in das ferne Amerika zog, war nur zwei Jahre älter als ich und wir spielten oft zusammen. Er war nicht wie meine anderen Brüder, wir verstanden uns gut und liebten es in der alten Lindenallee zu spielen. Eine wunderschöne Allee. Ein mit Gras überwachsener Weg zog sich hindurch. Es war ein
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