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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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fand diesen Mann abstoßend und anziehend zugleich und wusste, dass er sie ansprechen würde. Es war nur eine Frage der Zeit …
    Nach einer Weile gab sie ihre Bemühungen, die Notizen zu sichten, mit einem Seufzer auf, schloss ihre Augen wieder und versuchte, die animalische Wärme ihres Nachbarn zu ignorieren.
    Das Flugzeug setzte ächzend auf der Runway auf, und für ­einen Augenblick hatte Lilly das Gefühl, dass die alte Maschine auseinanderbrechen könnte. Das Spiel war zu Ende.
    Zwei Tiere vom selben erotischen Stamm hatten in dieser unfreiwilligen Enge nonverbale Signale ausgetauscht. Kein Wort, kein Überreichen von Visitenkarten, keine Anbahnung. Sie hatten beide abgewinkt, als das Essen kam, und ihre Getränke schweigend entgegengenommen. Der Fremde hatte die Brücke zum Small Talk, die eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit ermöglicht hätte, nicht beschritten, und Lilly war ihm gefolgt, weil ihr der Appetit vergangen war. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, und entschied sich für die vernünftigere Variante.
    Sie kannte diese Art von Mann. Sie war dem naiven Mädchen aus der Provinz entwachsen und klebte ihm eine ihrer imaginären Etiketten auf die Stirn: „Finger weg, einsamer Wolf, beziehungsunfähig.“ Lilly war achtundzwanzig, im Augenblick Junggesellin und betrachtete die Sache damit als erledigt. Sie konnte die Anzahl ihrer Liebesbeziehungen gerade noch an beiden Händen abzählen. Das entsprach dem Zeitgeist, aber nicht ihrer ­katholisch geprägten Jugend im Bregenzerwald.
    Die Flugbegleiterin bemühte sich, ihren Abschiedstext so zu sprechen, dass die Passagiere ihr glauben sollten, es sei ihr wirklich eine Freude gewesen, sie als Gäste an Bord zu verwöhnen. Es glückte ihr nur bedingt, und Lilly hörte den Unterton von Routine, Langeweile und Erschöpfung in ihrer Stimme. Doch plötzlich kam ihre echte Stimme durch: „Herr Vicente, kommen Sie bitte zum Ausgang, Sie werden abgeholt.“ Wie immer, wenn jemand aus der anonymen Masse hervorgehoben wird, beobachteten die meisten Passagiere neugierig, wer der VIP an Bord war, und machten sich unbewusst für eine Bewertung bereit.
    Der Mann neben ihr stand auf. Er nahm mit einer langsamen Bewegung Lillys Fingerspitzen, und als er sich zu ihr hinunterbeugte und ohne Vorwarnung ihre Hand küsste, roch sie noch einmal sein starkes Parfum, das sie inzwischen erotisch fand. Sie sah auf ihn hinunter und registrierte automatisch, dass sich seine wenigen Haare wie ein Kranz rund um seinen Kopf verteilten. Er schenkte ihr ein letztes Raubtierlächeln und ließ ihre Hand dabei nicht los: „Ruf mich an, ich bin Paolo.“ Während er sprach, griff er mit der anderen Hand in seine Manteltasche. Sie sah nicht, was er herausholte, der Rest ging blitzschnell. Er streifte ihr einen Ring über den Finger, wandte sich abrupt ab und bahnte sich seinen Weg durch die anderen Flugpassagiere, die inzwischen ebenfalls aufgestanden waren.
    Lilly merkte erst, dass sie mit ausgestreckter Hand und offenem Mund dastand, als die Flugbegleiterin auf sie zukam und sie fragte, ob sie noch etwas an Bord vergessen hatte. „Nein, aber kennen Sie den Mann, der vom VIP-Service abgeholt wurde?“ – „Ja, natürlich, das war Paolo Vicente, ein bekannter Anwalt und Geschäftsmann. Er fliegt ständig mit uns.“
    Im Flughafenbus betrachtete sie verstohlen den Ring. Ein einzelner, glitzernder, weißer Stein, der wie ein Brillant aussah, wurde von roten Steinen, die wie Rubine glänzten, umrahmt. Die Fassung war einfach, aber edel und wahrscheinlich aus Weißgold.
    â€žIch werde ihm den Ring mit der Post eingeschrieben schicken. Ich werde ihn nicht wiedersehen. Sicher nicht“, murmelte sie vor sich hin. Sie hatte vor einigen Monaten eine komplizierte Beziehung beendet und war froh, dass sie ihr Junggesellinnen­leben wieder aufnehmen konnte. Sie wollte sich auf keinen neuen Mann einlassen, nicht einmal für eine kurze Affäre. Und schon gar nicht auf diesen Typen mit der animalischen Ausstrahlung.
    In der Redaktion war am nächsten Tag wieder einmal die Hölle los. Eine Serie, die im nächsten Heft starten sollte, war geplatzt, und Lilly musste mit „Die Kinder des Mai ‘68“ einspringen.
    Ralf saß gelassen mitten im Inferno und trank Tee. Sie liebte ihn wie einen Bruder. Er war homosexuell, ein
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