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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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genialer Zeitungsmacher und Journalist, ihr bester Freund und mit ihr gemeinsam Herausgeber des Monatsmagazins Psychologie Morgen . Seine Hemden waren immer perfekt gebügelt, er war mehr breit als hoch und seine großen, rehbraunen Augen wurden von seinen stark gekräuselten, semmelblonden Haaren noch betont. Sein voller, fast weiblicher Mund stand in starkem Kontrast zu einer kühnen Adlernase, und wenn er in seiner unnachahmlichen Art ein Bein über das andere schlug und seine rechte Hand aufs Knie legte, dann wusste die ganze Redaktion, dass Schweigen angesagt war, weil er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Fast alles, was sie an intellektuellem Schliff und politischer Bildung besaß, verdankte sie ihm, auch, dass er sie ermutigt und gedrängt hatte, mit ihm gemeinsam ein Monatsmagazin zu gründen. Damals, als die Weltgesundheitsorganisation die europäische Geburtshilfe heftig kritisierte und Lilly als freie Journalistin keine Zeitung finden konnte, die ihre provokante Geschichte „Hebammen an die Macht“ drucken wollte, wurde die Idee geboren. „Lass uns einfach eine Zeitung machen, dann können wir schreiben, was wir wollen“, hatte Ralf gesagt und nächtelang Überzeugungsarbeit geleistet, bis sie ihren Teil des Startkapitals aus dem Erbe ihrer Großmutter väterlicherseits eingesetzt hatte. Von ihr hatte sie auch die große Altbauwohnung im dritten Stock eines Gründerzeithauses am Schwedenplatz geerbt, die jetzt als Redaktion diente.
    Ralf und Lilly hatten sich in Innsbruck, an ihrem ersten Tag an der Uni, kennengelernt. Er saß neben ihr im Hörsaal, und während ihres Publizistikstudiums hatten sie gemeinsam eine WG in Hötting, einem der Vororte, gegründet.
    Der Ring brannte an Lillys Finger und sie wusste, dass sie ihn noch heute zur Post bringen musste. Während sie schrieb, schaute sie immer wieder auf ihre rechte Hand und ärgerte sich über die kleinen pulsierenden Wellen, die ganz direkt, wie über eine elektrische Leitung, ihre Vagina erreichten. Sie mochte erotische Fantasien, aber bitte nicht während der Arbeit und im Zusammenhang mit diesem Mann! Ralf, dem sie fast alles anvertraute, konnte sie die absurde Geschichte nicht erzählen. Es klang wie aus einem schlechten Kitschroman. Sie liebte Ralfs Humor, gleichzeitig kannte sie seine spitze Zunge. Sie wusste, auch ohne seinen Kommentar, dass es absurd war, dass sie den Ring nicht einfach abnahm, in ein gepolstertes Kuvert verpackte und zur Post brachte.
    Marion, die Redaktionsassistentin, steckte den Kopf zur Türe herein: „Brauchst du etwas von mir?“
    Lilly hörte sich selber zu und wunderte sich, weil die Worte ohne ihr Zutun aus ihrem Mund kamen: „Ja, bitte such mir die Telefonnummer von einem Paolo Vicente heraus.“
    Er war sofort am Telefon, als hätte er ihren Anruf schon erwartet. „Ich schicke Ihnen heute den Ring zurück und brauche Ihre Adresse …“
    â€žNein, ich will dich sehen, bring ihn mir. Jetzt. Ich werde auf dich warten.“ Seine Stimme klang heiser und gleichzeitig bestimmt. Er nannte eine Adresse und legte auf.
    Lilly spürte, wie die Hitze aus ihrer pulsierenden Vagina sich über ihren ganzen Körper ausbreitete und sich ihre Beine unter dem Schreibtisch leicht spreizten.
    Scheiße!
    Sie verließ die Redaktion wortlos, ging auf den Schwedenplatz hinaus und merkte, als sie die Straße überquerte, dass ihre Knie zitterten. Die Adresse, die Paolo genannt hatte, gehörte zum angrenzenden zweiten Bezirk und war nur fünfzehn Minuten von der Redaktion entfernt. Sie passierte die Brücke über den Donaukanal, ohne ein einziges Mal aufs Wasser zu schauen, und rempelte auf der anderen Uferseite einen Mann an, der vor einem Geschäft mit Fahrrädern stand. Ihr Kopf war vollkommen leer.
    Sie stand eine Weile unschlüssig vor dem Gebäude. Es war ein renoviertes Biedermeierhaus in der Nähe der Nepomuk-Kirche, mit einem großen, braunen Tor, in dem die unauffällige Eingangstüre fast verschwand. Sie zögerte einen Augenblick, dann machte sie kehrt, überquerte die Fahrbahn und ging zu Fuß die Praterstraße auf der anderen Seite wieder zurück. „Nein, sicher nicht, ich erlaube dir nicht, dass du dir das antust“, warnte sie sich selbst und war froh, dass sie gegen den Wind, der vom Donaukanal durch die Straße fegte, ankämpfen musste. Lilly war als Einzelkind
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