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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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war so anders als die Mädchen in Wien, so hell, so klar, so natürlich, so unbeschwert. Von diesem Tag an hatten sie jedes Jahr aufeinander gewartet, auf diesen Moment, wenn endlich Ferienzeit war. Seine Eltern hatten für ein Butterbrot ein Vorsäß in der Nähe gekauft und aus Sicht der Einheimischen verschandelt. „Abgschleackt“ nannten sie die umfangreichen Renovierungen, die in der Anlage eines Alpingartens ihren Höhepunkt gefunden hatten.
    Als die Kinderspiele mit der Zeit in Erwachsenenspiele übergingen, hatte Lillys Bregenzerwälder Großmutter ihre Tochter Katharina gewarnt: „Des isch koan üsriger, des tuat nit guat. Mir san Hungerlider und si san rich.“ 01
    Katharina und Harald hatten sich längst anders entschieden und schworen sich an ihrem geheimen Platz im Wald ewige Treue.
    Der Schwur überlebte den Krieg. Als Harald, der mit siebzehn eingezogen worden war, drei Jahre später in den Bregenzerwald kam, war er zum Skelett abgemagert. Er wurde von Lillys Familie zuerst einmal aufgepäppelt. Und anschließend gab es eine Hochzeit, die von „den Wienern“ ausgerichtet wurde, an die sich die Bergler noch lange erinnern sollten. Lauter feine Gäste aus ganz Europa waren gekommen, der ganze Ort wurde in eine einzige Fremdenpension verwandelt. Als die Wäldarschmelg 02 mit ihrem Harald nach Wien zog, gab es viele im Tal, die sie um ihre gute Partie beneideten.
    Aber weil Katharinas Mutter recht gehabt hatte, war ihre Tochter nach zehn Jahren Ehe wieder da. Sie liebte ihren Mann noch immer und er sie. Aber sie konnte die Großstadt nicht ertragen, und er war mit seiner Fabrik verheiratet. Das Tal seiner Kindheit, wie er den Bregenzerwald nannte, war ein schöner Ferienplatz, aber kein geeigneter Lebensmittelpunkt für einen Fabrikanten.
    Es gab ein großes Fest für die verlorene Tochter, zu dem Lilly eine kleine weiße Tracht geschenkt bekam, die ihre Großmutter zu Entzückensschreien veranlasste: „Du beoscht a echte Wäldare, ma merkt’s Wianar Bluot nüd.“ 03 Der „Wasserkopf Wien“ war verschrien im Land hinter dem Arlberg, und es war für das „Völkle fromm und wacker, das in Tal und Bergen wohnt“, wie es in der Landeshymne heißt, ganz klar: „Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht verbinden.“
    Lilly, die das Nomadenblut ihrer Vorarlberger Vorfahren geerbt hatte, fühlte sich nach wenigen Tagen zu Hause in diesen Bergen, in denen die Luft klar und die Sicht weit war. Und gleichzeitig blieb sie auch fremd. Sie war eine Städterin. Da half es auch nichts, dass die schönen Kleidchen aus den edlen Stoffen in eine Kiste gepackt und nur zu den Besuchen beim Vater wieder herausgeholt wurden.
    In Wien war Lilly auch nicht mehr zu Hause. Willi, ihr Freund aus Kindertagen, war der einzige, der sie dort verstand. Ihr Vater war stolz auf sie, aber seine Liebe wärmte sie nicht. Er kaufte ihr, als sie erst vier war, einen Tennisschläger und stellte sie stolz seinen Freunden vor, mit denen er jeden zweiten Morgen in der Porzellangasse auf einem Tennisplatz, den es schon zu Kaiser Franz Josephs Zeiten gab, spielte.
    Ihre Eltern hatten sich nie scheiden lassen. Sie konnten nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander leben. Als der Versuch, ihre Welten zu verbinden, gescheitert war, fanden sie ein Arrangement, das ihnen ein Minimum an Verbindung ermöglichte. Sie trafen sich jeden zweiten Monat in der Mitte des Landes, im Österreichischen Hof in Salzburg. Wenn ihnen die Zeit dazwischen zu lang wurde, fuhr der eine zum anderen. Lilly war immer dabei. Es war ein Familienleben im Postkartenformat, aber sie kannte nichts anderes.
    Meistens war es Winter, wenn sie nach Wien fuhren, um den Vater zu besuchen. Lillys Mutter wollte, solange die Luft lind war und die Kräuter dufteten, nicht in die Großstadt fahren. Erst wenn die Tage kürzer wurden und mit dem Almabtrieb die sesshafte Zeit eingeläutet wurde, machte sich die Nomadin ihrer Tochter zuliebe auf die Reise in den Osten.
    Sie hatte als Kind nicht verstanden, warum ihre Eltern nicht zusammen wohnten. Aber sie hatte unbewusst gespürt, dass die Last der Verbindung zwischen den beiden auf ihr lag.
    Lilly seufzte und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie spürte, dass die Feuchtigkeit der Nacht in ihre Kleider kroch, stand von ihrem Baumstamm auf und wusste plötzlich, warum sie nirgends ganz zu
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