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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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überging. Und plötzlich fühlte sie sich missbraucht. Darum ging es also. Sie wollten ein Publikum, um es miteinander zu treiben. Oder war ein Vierer vorgesehen gewesen, der nicht geklappt hatte, weil Lilly und der Sekretär einander nicht mochten?
    Lilly spürte, wie ihr Körper steif wurde und sie fast ganz aufhörte zu atmen. Sie kannte diesen Zustand „ich stelle mich tot“ und wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Es war ein kurzes Liebesspiel gewesen, und dann kam diese Stille zurück, die es nur noch auf dem Land gibt. Nach einer Ewigkeit, als sie Paolos lautes Schnarchen hörte, löste sich die Starre auf. Sie konnte Schnarchen nicht ausstehen.
    Sie zog sich leise an, packte ihre kleine Reisetasche, schlich die Holztreppen hinunter und hielt den Atem an, als eine der Stufen laut knarrte. Sie atmete erleichtert auf, dass der Haustürschlüssel steckte und war froh, dass Godot, ihr alter Freund, sofort ansprang. Als sie von der Schotterstraße in die Hauptstraße einbog, zitterte sie am ganzen Körper und hielt sich zur Beruhigung
am Lenkrad fest. Sie musste stehen bleiben und lenkte ihr Auto bei der nächsten Gelegenheit auf einen kleinen Feldweg, der zu ­einem Stadel führte.
    Sie streifte ihre Ballerinas ab, stieg aus und spürte unter ihren Füßen erleichtert eine Mischung aus Gras und festgetretener Erde. Sie atmete tief durch, sog die klare Nachtluft ein und legte den Kopf in den Nacken. Sie spürte, wie sich ihr Körper langsam beruhigte. „Du bist ein Sternenkind“, hatte ihre Großmutter immer zu ihr gesagt und an der Kanisfluh vorbei, diesem Berg, den Lilly so liebte, auf den Sternenhimmel gezeigt. Lilly schaute in den Nachthimmel hinauf und spürte, wie die Sterne sie trösteten.
    Und plötzlich war der Bregenzerwald da. Sie hatte bis jetzt nicht gewusst, dass sie ihn einfach rufen konnte, wenn sie ihn brauchte. Er hüllte sie ein, und Lilly spürte, dass alle Natur­wesen, die sie in ihrer Kindheit kennengelernt und fast schon vergessen hatte, bei ihr waren. Sie nahm ihre Schuhe in die Hand, ging den Weg entlang bis zu dem Stadel, der so gut nach Holz roch, und setzte sich auf einen Baumstamm, den jemand auf zwei Holzpflöcke gelegt hatte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Bretterwand und war für einen Augenblick wieder das Kind von damals.
    Sie war mit fünf Jahren in den „Wald“ gekommen. Mit Kleidchen, die in eine Großstadt passten, aber nicht in ein Dorf in den Bergen, mit ihrem schönen Hochdeutsch, das sie im Kinder­garten von den anderen getrennt hatte. Gleichzeitig verstand sie die Wälder überhaupt nicht mit ihrem Jau und Dau, was ja und da heißen sollte. Ihren Vater vermisste sie nur selten. Die Leitung seiner Schirmfabrik nahm ihn so in Anspruch, dass er nicht gemerkt hatte, dass „die Blume aus den Bergen“, wie er seine Frau nannte, neben ihm verdorrte, und dass er zu seiner einzigen Tochter eine Sonntagsbeziehung hatte.
    Lilly vermisste vor allem ihre Großmutter. Sie sah sie von nun an nur noch, wenn Mutter bereit war, sie zu einem ihrer seltenen Ausflüge nach Wien mitzunehmen. Mémé wohnte in dem Gründerzeithaus am Schwedenplatz, in dem im Erdgeschoss ein kleines Einzelhandelsgeschäft und in den anderen Stockwerken ihre Wohnung und die Schirmproduktion untergebracht waren. Sie nahm ihre Enkelin mit, wenn sie durch die Räume ging, und legte ihre kleine Hand auf die unterschiedlichen Stoffqualitäten: „Wir sind in ganz Europa berühmt für unsere Qualität“, sagte sie dann stolz und sah den Frauen in der Näherei zu, wie sie im Akkordtempo die Bahnen für die Schirme zuschnitten und zusammennähten. Ihr besonderer Stolz waren jedoch die Stahlgestelle. Sie nahm einem der Handwerker ein Werkstück aus der Hand: „Wir verwenden nur feinste Uhrmacherdrähte, die sind leicht und halten lang.“
    Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich auf dem Vorsäß der Familie kennengelernt, einer Hütte, vor der die Kühe grasten. Katharina war eine braun gebrannte Nomadin, deren Leben sich nach den Bedürfnissen des Viehs richtete. Im Mai, sobald es genügend Gras gab, zogen sie aufs Vorsäß und im Juli, wenn die Wiesen dort kahl gefressen waren, ging’s auf die Alm. Lillys Vater, der damals vierzehn war und auf Sommerfrische, hatte sich in der ersten Sekunde in den kleinen Wildfang verliebt. Sie
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