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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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Hause war. Sie hätte sich für eine der beiden Welten entscheiden müssen, und das konnte und wollte sie nicht. Sie ging nachdenklich zum Auto zurück und war erleichtert, dass ihr Schmerz nicht Paolo galt.
    Die Obsession war vorbei. Der Bann war gebrochen.
    Sie würde nie mehr mit Paolo schlafen und das war gut so. Sie wollte einen Mann, den sie nicht teilen musste. Einen, der alles in ihr zum Klingen brachte, mit dem sie alles verbinden konnte. Die Liebe, den Alltag und die Sexualität.
    Es war zwei Uhr morgens, als sie laut singend auf der kurvenreichen Straße des Semmerings Richtung Tal fuhr. Die Natur­wesen hatten ihr geholfen. Sie spürte ihre ruhige Präsenz in jeder einzelnen ihrer Zellen und wusste nach langen Wochen plötzlich wieder, wie es sich anfühlt, in ihrer Mitte zu sein.
    Im neunten Bezirk gab es ausnahmsweise viele Parkplätze, und Lilly spürte eine Welle von Glück, als sie ihr Auto abschloss und durch die nächtlich stille Servitengasse ging. Sie blieb einen Augenblick vor der Servitenkirche stehen, obwohl sie nicht im klassischen Sinne gläubig war und auf Kriegsfuß mit der katholischen Kirche stand: „Danke ihr da oben. Ich bin wieder ich.“
    Ralf war froh. Das Heft hatte seine Herausgeberin und seine beste Journalistin wieder zurück. Lilly war auch froh und stürzte sich in die Arbeit. Sie hatte die wilde, ungehemmte, erotische, dunkle Frau in sich kennengelernt und war Paolo dankbar. Sie war jetzt ein willkommener Teil – in einem großen Ganzen, das ihre Persönlichkeit ausmachte. „Wenn man etwas lange unterdrückt hat, muss es für eine Weile Vorrang bekommen“, grinste Ralf, der gerade von einer systemischen Fortbildung, über die er schreiben wollte, zurückgekommen war.
    Lilly nickte und dachte an ihren Vater. Er war schon seit ein paar Jahren tot. Das Bild von damals tauchte wieder auf.
    Lilly im dunklen Stiegenhaus in Vaters Haus in der Porzellangasse in Wien. Ihre kleine Handtasche lag am Boden, sie hatte sie fallen gelassen und ihre Hände zitternd vor Erregung um Willis Hintern gelegt. Er war genauso nervös und erregt wie sie und versuchte mit schweißnassen Händen ihre kleine Brust aus dem Büstenhalter zu holen. Seine ungeschickte Zunge war in ihrem Mund, und sie wussten beide nicht, was genau zu tun war, aber sie wussten, dass sie es wollten.
    Lilly spürte, dass sie unten, dort wo das Unaussprechliche, Schmutzige war, das einmal im Monat auch noch blutete, ganz nass war. In diesem Augenblick ging das Licht an und ihr Vater kam die breite Treppe aus Marmor herunter. Sein Gesicht war wutverzerrt und seine große, schmale Hand schon zum Schlag erhoben, noch ehe er bei ihr war. Lilly stand da, eine Brust schon ausgepackt, das Haar zerwühlt, der Rock verrutscht.
    Ihr Vater schlug ihr wortlos ins Gesicht, packte sie an ihren langen, mühsam ausgeföhnten Haaren und schleifte sie die Treppe hoch, zurück in die Wohnung, ins Schlafzimmer. Lillys Mutter saß mit angstgeweiteten Augen im Bett und hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. „Schau sie dir an, diese Hure, deine Tochter!“
    Lilly war fünfzehn und wollte nur noch sterben. Ihr Vater hatte sie noch nie geschlagen. Sie war sein Augenstern, und wenn sie ihn mit Mama in Wien besuchte, nannte er sie „meine kleine, verwöhnte Prinzessin“.
    Ralf rüttelte sie an der Schulter: „Wo bist du denn? Komm zurück!“ Lilly nickte und sagte: „Bitte, kannst du mich einfach für einen Augenblick in den Arm nehmen, ich brauch’ das jetzt.“
    Eines von Lillys Themen, auf das sie sich spezialisiert hatte und zu dem sie immer wieder schrieb, war Kindesmissbrauch. Sie wusste, dass auf eine spezielle Art und Weise auch sie zu diesen Kindern gehört hatte. Ihr Vater hatte ihr sicher nichts getan, nicht im körperlichen Sinn. Aber auf subtile Weise war sie seine „kleine Frau“ gewesen, nachdem Mutter sich in ihrem ­Unglück von ihm als Frau abgewandt hatte. Er hatte Lilly mit seiner ­Eifersucht verfolgt und bis zu seinem Tod kein gutes Haar an ihren Männern gelassen: „Er ist nicht gut genug für dich“, hatte er bei jedem, der ihm unter die Augen kam, gesagt.
    Paolo hatte seit dem Wochenende am Semmering nicht mehr angerufen. Lilly spürte, dass sein Schweigen an ihr nagte. Nicht, weil sie wieder mit ihm schlafen wollte. Das war vorbei. Die wilde,
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