Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
Vom Netzwerk:
höfliche Zurückhaltung: Warum begrüßten sie den Beginn dieser einzigen Liebe nicht freudiger?
    Es folgte entweder wütendes Schweigen, das mehrere Wochen andauern konnte. Oder ein prompter Telefonanruf.
    Â«Ihr hättet trotzdem liebenswürdiger zu ihr sein können!»
    Â«Was meinst du mit ‹trotzdem›?»
    Â«Ich habe gleich gemerkt, dass sie euch nicht gefiel.»
    Der jüngere Bruder rechtfertigte sich mit dem Hinweis, dass es der dritte Vorstellungsbesuch in diesem Jahr gewesen sei, dass eine gewisse Distanziertheit am Anfangdoch ganz normal sei, dass seine Frau und er Gefahr laufen würden, seelischen Schmerz zu erleiden, wenn sie zu Beginn zu viel Zuneigung zeigten und dann unglücklicherweise (wie immer) eine Trennung erfolgte, also sei es ganz normal, wenn sie sich schützten …
    Der ältere Bruder hielt an seinem Ärger fest, legte auf, die Geschwisterliebe schwankte und ging fast unter.

 
    Â 
    Doch die Geschwisterliebe überlebte.
    Ob es an den weißen Russen lag, die darüber wachten? Nie verpassten die Brüder das rituelle Abendessen am ersten Dienstag jedes Monats.
    Sie hatten beide dasselbe Metier gewählt: Geschichten. Der Ältere erfand sie, damit Leute, sogenannte Leser, sie kauften. Der Jüngere hörte zu, wenn andere Leute, sogenannte Patienten, sie loswerden wollten. Der einzige wahre Unterschied bestand in der Bezahlung. Der eine bekam Tantiemen, der andere Honorare.
    Mit jener Gefühlsseligkeit und jener Nachsicht sich selbst gegenüber, die einem nur der Alkohol verleiht, erinnerten sie sich nach dem dritten oder vierten Glas bei
Dominique
oft gegenseitig daran, dass sie noch immer ihren ersten Kampf weiterfochten: Du und ich, wir werden den Kampf gegen das Schweigen nie aufgeben.
    Â«Weißt du noch, wie es war, wenn Vater und Mutter nicht mehr miteinander sprachen …»
    Â«Und wir ebenfalls nicht mehr zu sprechen wagten …»
    Â«Dann legte einer eine Schallplatte auf, ganz leise …»
    Â«Meinst du, das geschah, damit wir nicht vergaßen, dass es Wörter gibt?»
    Die Zeit verstrich für den Jüngeren ohne irgendwelche Zeichen, an die er sich hätte klammern können. Da er sich in seiner einzigen Liebe fest eingerichtet hatte und kinderlos blieb, flossen die Jahre an ihm vorbei wie Wasser,und weder durchlitt er eine schwere Krankheit, noch erlebte er je einen beruflichen Einschnitt.
    Von seinem älteren Bruder dagegen hätte man glauben können, er habe sich geradezu abgemüht, um die Wegmarken und Pflöcke zu vervielfachen. Vielleicht hielt er das Leben nur aus, wenn es datierbar und in wohldefinierte Epochen eingeteilt war? Jeder Frauenname war für ihn eine Jahreszeit. Sein Bruder brachte einiges durcheinander, klar. Er behielt nur die Rhythmuswechsel in Erinnerung.
    Â«Damals war deine stürmische Phase, stimmt’s? Ich erinnere mich, dass eine nach der anderen aufmarschierte.»
    Â«Das mit dem Aufmarsch stimmt. Aber so moralisch wie damals war ich nie wieder. Ich hatte mir die strengste aller Regeln auferlegt: eine Frau umgehend zu verlassen, wenn mir bei der Liebe mit ihr das Bild einer anderen in den Sinn kam.»
    Â«Was für eine blödsinnige Regel.»
    Â«Warum das?»
    Â«Wenn jeder sie befolgte, würde niemand mehr beim anderen bleiben.»
    Â«Nicht mal du?»
    Â«Nicht mal ich.»
    Â«Das finde ich interessant.»
    Der Ältere wartete geduldig darauf, wie es weitergehen würde.
    Er wusste, die kleinsten Enthüllungen konnten den ganzen Körper seines Bruders in Aufruhr bringen. Der Arme begann zu zittern. Dann verzog er das Gesicht (ein Zeichen für Magenschmerzen). Er wurde blass, zwinkerte mit den Augen, strich sich immer wieder mit derHand durchs Haar. Die Kellner, die ihn nicht kannten, wurden unruhig.
    Â«Geht es Ihnen gut, Monsieur? Möchten Sie ein Glas Wasser, oder soll ich die Tür aufmachen und frische Luft reinlassen?»
    Wenn er zu schwitzen begann, der Schweiß auf seiner Stirn perlte, ließen die Geständnisse nicht mehr lange auf sich warten. Sie haben es erraten: Ich erwähne diese gelegentlichen Schwächen nur aus niederen Beweggründen. Ich fand schon immer, dass mein Bruder viel zu gut aussah.
    Â«Wenn sie davon wüsste … Ich betrüge meine Frau ständig.»
    Â«Wie bitte?»
    Â«Mit der Erinnerung an ihre Jugend.»
    Â«Was meinst du damit?»
    Â«Ich betrüge sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher