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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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mit der Erinnerung an unsere Jugend. Der Erinnerung daran, wie sie und ich waren, als wir jünger waren, wenn du so willst.»
    Der Bruder mit der einzigen Liebe spähte verlegen in alle Richtungen, weil er zu laut geredet hatte. Er biss sich auf die Lippen. Minuten, viele Minuten vergingen.
    Der Ältere war sprachlos. Was sollte er von diesem Geständnis halten? Häufig hatte sich sein kleiner Bruder aus reinem Großmut Schwächen angedichtet. Um seinen älteren Bruder nicht mit dem Gewicht jener ruhmreichen und unveränderlichen einzigen Liebe zu erdrücken.
    Dem Älteren fiel auf, dass sie immer mehr Zeit darauf verwandten, einander zu beruhigen. Dabei hatten sie ihr Leben damit begonnen, einander heftig zu bekämpfen (die ersten fünfzehn Jahre). Lag es daran, dass die Welt immer bedrohlicher wurde? Oder dass die Kräfte,die sie brauchten, um in ihr zu leben, langsam abnahmen?
    Â«Lass dir etwas von deinem älteren Bruder gesagt sein! Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du liebst deine Frau in ihrer Ganzheit. Und deine Frau besteht wie wir alle, daran lässt sich nichts ändern, mehr aus ihrer Vergangenheit als aus ihrer Gegenwart.»
    Â«Vielleicht hast du recht.»
    Â«Entschuldige die Indiskretion, aber wenn du sie streichelst, gibt sich deine Hand nicht mit einem kleinen Stück Haut zufrieden. Deine Hand streicht über ihren ganzen …»
    Sie erröteten.
    Â«Und mit der Zeit ist es doch dasselbe. Du wärst arm dran, ihr wäret arm dran, wenn du an ihr nur den gegenwärtigen Augenblick lieben würdest, diese vergängliche und (er holte tief Atem) winzig kleine Insel.»
    Â«Danke.»
    An diesem Punkt driftete das Gespräch, unterstützt vom Wein, einem Bourgueil, in die unwahrscheinlichsten Regionen ab, wo alles in allem steckte und überall Gefühle mitspielten.
    Â«Ich sag dir eins: Sich zu etwas zu zwingen, ist schlimmer, als jemanden zu betrügen!»
    Â«Und ich sag dir: Was kannst du dafür, wenn dein Hirn phantasiert?»
    Â«Ich würde ihm die Phantasien gerne austreiben.»
    Â«Mach dir keine Sorgen, das besorgt schon der Alzheimer.»
    Â«Und ich sag dir: Phantasien sind Gespenster.»
    Â«Und noch etwas: Für diese kluge Erkenntnis übernehme ich heute die Rechnung.»
    Sie trennten sich wie häufig mit schwankendem Gang und vierfach beglückt: Jeder war glücklich über sich selbst und den anderen.
    Â«Komm gut nach Hause.»
    Â«Schlaf gut.»
    Als sie noch jünger gewesen waren, hatten sie sich immer schnell und abrupt voneinander getrennt: Kaum hatten sie sich umarmt, waren sie bereits wieder mit anderem beschäftigt gewesen. Das lag bestimmt daran, dass sie damals mehr Elan besaßen.
    Jetzt fürchteten sie die Nacht. In Gedanken begleiteten sie einander bis vor die Haustür. Sie verkniffen es sich, gleich anzurufen. Manchmal suchten sie einen Vorwand und gaben dem Drang nach. Fadenscheinige Vorwände, über deren Charakter sich keiner von ihnen täuschte.
    Â«Ah, du bist schon zu Hause? Ich war mir sicher, ich würde nur deinen Anrufbeantworter erreichen. Ich vergaß, dir zu sagen …»
    Fast hätten sie sich am Telefon gegenseitig ein Wiegenlied aus ihrer Kindheit vorgesungen, um einander in den Schlaf zu begleiten.
Aux marches du palais
. Oder
Brave marin revient de guerre
. Oder sie hätten einen ihrer Lieblingshelden zu Hilfe gerufen: Jean Bobet, den «Denker im Peloton», Juan Manuel Fangio, «den schnellsten Rennfahrer der Welt», oder gar Loys Van Lee, den Sportreporter, der ebenso elegante wie sibyllinische Sätze sagen konnte: «Eins ist klar, auch wenn dieser Alphonse bei Monsieur Jean das Boxen gelernt hat, ist aus ihm kein tiefschürfender Wissenschaftler des Faustkampfs geworden.»

 
    Â 
    Ab und zu klingelte das Telefon.
    Â«Dein Bruder ist nicht nach Hause gekommen.»
    Es war die Mitbegründerin und tägliche Mitverwalterin der einzigen Liebe. Mit anderen Worten, meine Schwägerin. Jedes Mal musste ich sie beruhigen.
    Â«Du weißt genau, wo er ist.»
    Â«Also keine Gefahr?»
    Â«Nein, nicht die geringste. Und für dich ebenso wenig. Ihr würdet beide viel mehr riskieren, wenn er darauf verzichten würde hinzugehen.»
    Â«Wieder einmal der Krieg?»
    Â«Natürlich! Was denn sonst.»
    Der kleine Bruder hatte eine Verabredung mit seinen Gespenstern. Gespenstern in großer Zahl, drei Millionen, wenn
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