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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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man genau sein will.
    Um zu verstehen, wie er zu dieser riesigen Familie von Schatten gekommen ist, muss man der Vergangenheit einen Besuch abstatten.
    Seit seinem fünften Lebensjahr, als er damit begann, allen Kuscheltieren, die man ihm schenkte, die Brust abzuhören und dann den Bauch aufzuschneiden, wollte mein Bruder von unserem Großvater immer und immer wieder die Geschichten aus den Jahren 1914 bis 1918 hören. Der erzählte freudig, trotz des allgemeinen Protests: «Diese Schreckensgeschichten sind nichts für sein Alter!» «Nachts werden ihn Albträume verfolgen!»
    Nichts hat geholfen. Weder Drohungen noch Verbote.An Weihnachten oder bei Hochzeiten fanden der alte Mann und der Steppke immer einen Weg, sich abzusondern. Sodass mein kleiner Bruder im Alter von zehn Jahren bereits die ganze Geografie des Gemetzels kannte: Verdun, Les Éparges, den Wald von Belleau, Mort-Homme …
    Im Grunde brauchte mein Bruder den Ersten Weltkrieg wie andere ihren Garten. In einem Garten trifft man die Natur an, eine Zusammenfassung der unendlich großen und vielfältigen Natur. Im Ersten Weltkrieg kann man gewiss sein, dem Grauen zu begegnen, der Verdichtung und höchsten Steigerung aller Gräuel und Dummheiten, zu denen die Menschheit fähig ist.
    Regelmäßig wurden unsere Eltern von der Schulleitung einbestellt.
    Â«Madame, Monsieur, dies ist die letzte Mahnung: Wenn Ihr Sohn erneut damit anfängt, wird er von der Schule verwiesen.»
    Â«Was hat er denn getan? Seine Noten sind hervorragend.»
    Â«Ihm ist nichts Besseres eingefallen, als den Grundschülern vom Bajonettgraben zu erzählen.»
    Diese tragische Episode – die nicht tragischer war als tausend andere – war seine Lieblingsgeschichte, sein Bravourstück: Ein riesiges Geschoss hatte die Spitze eines Hügels weggesprengt, es kam zu einem Erdrutsch, der eine Gruppe Soldaten verschüttete. Man ließ sie stehen, wie der Tod sie geholt hatte, nur die Spitzen ihrer Bajonette ragten noch aus der Erde.
    Meine Eltern fügten sich, brachten banale Entschuldigungen vor.
    Â«Glauben Sie uns, Frau Direktorin, Herr Schulleiter,wir tun, was in unserer Macht steht, aber er kommt immer wieder auf den Ersten Weltkrieg zurück.»
    Â«Hat er denn keine anderen Interessen? Briefmarkensammeln vielleicht? Schicken Sie ihn doch zu den Pfadfindern!»

    Â«Machst du dir keine Sorgen, wenn er weg ist?», fragte man die einzige Liebe meines Bruders.
    Â«Doch, ich mach mir Sorgen.»
    Â«Aber du willst nicht wissen, wohin er geht?», bohrten all jene nach, die diese einzige Liebe erbitterte – dieser leibhaftige Vorwurf, dieser unbestreitbare Beweis, dass eine solche Liebe möglich war –, alle, die sie so gerne an einem ganz gewöhnlichen außerehelichen Abenteuer hätten zerbrechen sehen.
    Â«Ich will es nicht wissen.»
    Man blieb beharrlich, man bot ihr Hilfe an.
    Â«Soll ich ihm nachgehen? Wäre es dir nicht lieber, du wüsstest Bescheid?»
    Â«Bescheid wissen … was für ein komischer Ausdruck! Nein, ich glaube, ich brauche niemanden, der mir die Augen öffnet!»
    An diesem Punkt des Gesprächs zuckten die dümmsten ihrer Freunde mit den Achseln und gingen. Die anderen ließen nicht locker mit ihren Nachforschungen über die einzige Liebe.
    Â«Und macht es dich nicht traurig? Ich möchte dir ja nicht zu nahe treten …»
    Â«Ich bitte dich!»
    Â«Macht dich sein Bedürfnis, immer wieder mal zu verschwinden, nicht traurig? Ich dachte, wenn man liebt, wenn man geliebt wird …»
    Â«Da dachtest du eben falsch. Aber klar macht es mich traurig.»
    Was trieb ihn an, sich mit diesen vielen Gespenstern zu beschäftigen und den Kontakt mit ihnen zu pflegen, wo er doch ein so unschätzbares Gut wie die einzige Liebe besaß?
    Doch ihre Traurigkeit war begründet: Oder was ist Ihrer Meinung nach besser, eine andere Frau oder den Ersten Weltkrieg zum Rivalen zu haben?
    Eines Abends, in vertrauter Runde, als der Hochmut, zu lieben und geliebt zu werden, sie zur Kühnheit verleitete, fügte sie hinzu:
    Â«Normalerweise sucht ein Mann, der seine Frau betrügt, anderswo das Leben, das ihm zu Hause fehlt, oder? Bei meinem Mann ist es umgekehrt. Unser Leben muss wohl zu stark, zu hell sein. Hast du noch nicht bemerkt, wie oft er die Augen zusammenkneift? Vermutlich braucht er Schatten. Auf diesen Reisen legt er sich einen
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