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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Dummerjan!»
    Â«Welcher Liebe?»
    Â«Das verrate ich erst, wenn man mir einen anderen Bruder liefert, einen, der mehr in der Birne hat.»
    Ein Gespenst herrschte zu Hause, das Gespenst der Liebe, die meine Eltern füreinander empfunden hatten. Arme Eltern! Sie haben tapfer gekämpft. Aber ihre Liebe hatte nicht überlebt. Trotz der Unterstützung durch Liebeslieder (oder vielleicht wegen ihrer insgeheim verderblichen Wirkung). Die Liebe hatte sich bei uns in Liebeskummer verwandelt. Und was ist ein Gespenst anderes als Kummer?
    Jetzt verstehen Sie, warum wir in unserer Familie Gespenster gewohnt sind.

 
    Â 
    Was tun angesichts des Schauspiels der einzigen Liebe?
    Man staunt, doch vor allem ärgert man sich. Man ärgert sich über die Harmonie, und man ärgert sich über die kleinen Lächerlichkeiten dieser Harmonie: das «mein Schatz», das «mein Liebling», mit denen alle Sätze gespickt sind; die zwei einsamen Liegestühle im Garten; der Verzicht auf Autonomie: «
Wir
fanden den Film schrecklich.»
    Doch es gibt noch andere, ernstere Ärgernisse, vor allem das Ärgernis, dass einem die Nachahmung nicht gelingt.
    Denn selbstverständlich wollte auch der ältere Bruder seine einzige große Liebe haben. Eine Liebe auf den ersten Blick. Und natürlich für alle Ewigkeit. So begann sich das Karussell zu drehen.
    Jeder neuen Frau, der er begegnete, schlug er vor, seine einzige Liebe zu werden. In der Regel schüttete sich die Frau dann vor Lachen aus. Und wenn sie sich auf das Abenteuer einließ, blieb sie nicht bei ihm. Wie soll man auch im Schatten einer wahrhaftigen großen Liebe leben? Wie im ständigen Vergleich mit der großen Liebe bestehen? Der ältere Bruder war also wieder allein. Bis er eine andere Frau traf. An die er felsenfest glaubte. Kaum hatte die künftige Mitbegründerin der einzigen Liebe die Einladung zu einem ersten Abendessen angenommen, rief der ältere Bruder den jüngeren an.
    Â«Wir kommen.»
    Â«Wie bitte?»
    Â«Ich hab jetzt auch meine einzige Liebe gefunden. Kann ich kommen und sie euch vorstellen?»
    Â«Seit wann kennst du sie?»
    Â«Was spielt das für eine Rolle? Ich weiß, dieses Mal ist sie es.»
    Und dann fing der Ärger wieder an. Ein Ärger, welcher der Wut oft stark, sehr stark ähnelte.

    Die Liebe zwischen Brüdern ist ein voller Speicher, der von Ärgernissen überquillt. Harmlosen Ärgernissen, die den Himmel nur für einen Augenblick bewölken. Und anderen, die sich zu Rasereien entwickeln, die zu heftigen Worten führen, zu mehr oder weniger dauerhaften, manchmal endgültigen Zerwürfnissen. Aber es gibt noch andere, noch schlimmere Ärgernisse: Sie kapseln sich ein, dringen unter die Haut und gelangen von dort ins Herz, unsichtbar, aber immer gegenwärtig. Die beiden Brüder treffen sich regelmäßig, umarmen sich, lächeln sich an, aber sie hassen einander bis in alle Ewigkeit.
    Keine Ahnung, welcher Kategorie ich den doppelten Ärger der Vorstellungsbesuche zuschlagen soll.
    Bei jeder neuen Liebe hatte der ältere Bruder also nichts Eiligeres zu tun, als sie so schnell wie möglich dem jüngeren vorzustellen: Dessen Meinung zählte mehr als alles andere. Von seiner Meinung hing wirklich ab, ob er sich weiter für diese Liebe engagierte oder nicht. Daher der erste Ärger, der des jüngeren Bruders.
    Wenn er den Hörer auflegte, sagte er zu seiner Frau:
    Â«Es war mein Bruder.»
    Â«Dachte ich mir.»
    Â«Stell dir vor, er hat sie erst vorgestern kennengelernt. Kann er nicht ein wenig warten und probieren, ob …»
    Â«Sei nicht so hart mit ihm.»
    Â«Er benimmt sich rücksichtslos uns gegenüber. Und vielleicht …»
    Â«Vielleicht?»
    Â«Vielleicht legt sich ein Schatten über unsere Liebe, wenn wir ständig mit diesen Karikaturen von Gefühlen konfrontiert werden!»
    Â«Also, ich bitte dich! Wir kennen deinen Bruder doch, seit damals …»
    Das war der Ärger des Jüngeren.
    Der Ärger des älteren Bruders hatte immer denselben Grund: Ihm gefiel nicht und ihm würde niemals gefallen, wie seine neue Liebe von seinem Bruder und seiner Schwägerin, den Profis der wahren Liebe, aufgenommen wurde.
    Â«Darf ich euch M. (oder C. oder B. …) vorstellen?»
    Â«Guten Tag.»
    Wo der ältere Bruder Begeisterung erwartete, zeigten sie bestenfalls Zurückhaltung,
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