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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Krankheit der Chansons erwischt hatte) zog ständig ein und aus, vagabundierte von Haus zu Haus, von Liebe zu Liebe.
    Der jüngere Bruder war seiner Liebe mit sechzehn begegnet und hatte sie nie mehr verlassen. Man muss dazu sagen, dass diese Liebe keiner anderen glich. Sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Mädchen aus unserer damaligen Umgebung. Ein Gesicht wie von der Grenze zu Asien, aus irgendeiner Gegend am Kaukasus; ein Körper, der sich für seine Größe schämte; der Gang einer schüchternen Prinzessin. Genau über den sehr hohen Wangenknochen leuchteten zwei helle Augen, halb lachend und halb verschreckt.
    Es waren einmal zwei Brüder: ein Bruder, der seine Liebe verteilte, und ein Bruder mit einer einzigen Liebe. Und sie beneideten einander.
    Zwei Brüder beneiden einander immer. Es könnte gut sein, dass die Brüderlichkeit, die tiefe Verbundenheit und die Gewaltsamkeit der Brüderlichkeit, ihren Ursprung in diesem einzigen Antrieb hat: der Eifersucht. Ein Vater oder eine Mutter zieht zwangsläufig einen Bruder demanderen vor, und schon beginnt das Karussell der Eifersüchteleien, das nicht mehr aufhört.
    Die beiden Brüder beneideten also einander. Der Ältere (der Bruder, der seine Liebe verteilte) beneidete seinen jüngeren Bruder lauthals um seine einzige Liebe. Der Jüngere nahm die Hommage mit einem Lächeln entgegen, ein wenig müde, ein wenig stolz und immer mit der Miene des Beschützers. In diesen Momenten hätte der Ältere den Jüngeren am liebsten umgebracht vor Ärger. Man kann aus Ärger töten.
    Der Ältere riss sich zusammen. Die Beziehung zwischen Brüdern ist ebenso schwierig wie die zwischen Liebenden, dachte er. Es ist mir nicht geglückt, eine einzige Liebe dauern zu lassen. Die Beziehung zu meinem Bruder wird mein Meisterwerk, der Beweis, dass auch ich in der Lage bin, beständig zu sein.
    Der Ältere biss also die Zähne zusammen und wartete, bis seine Wut verraucht war.
    Und sie verrauchte.
    Hin und wieder erhielt der Ältere dafür seine Belohnung, eine Art Entschädigung. Wenn nämlich der Jüngere einen verstohlenen Blick auf ihn warf und meinte, dass niemand es bemerken würde.
    Der Ältere las in den Augen seines kleinen Bruders ein Eingeständnis. Dieses Eingeständnis drang nie vor bis auf dessen Lippen. Denn wäre es ihm über die Lippen gekommen, hätte es seine einzige Liebe verraten und ihr vielleicht den Todesstoß versetzt. Doch solange es in den Augen blieb, konnte es niemanden verletzen. Ein Blick ist kein Beweis. Kein Gericht würde ihn als Beweis akzeptieren.
    Das Eingeständnis des jüngeren Bruders (des Bruders mit der einzigen Liebe) war ein Bedauern. Das Bedauern angesichts des nahenden Alters, der immer näher rückenden Stunde, in der die Tür der Sexualität sich für immer schließen würde, nicht so viele Frauen geliebt zu haben wie sein Bruder. Das Bedauern, seine Liebe nicht verteilt zu haben.

    Die beiden Brüder hatten einen festen Treffpunkt. Seit ihrer Kindheit waren sie ihm treu geblieben. Schon ihre Eltern feierten hier immer die großen Ereignisse des Familienlebens: die Einschulungen, die Geburt der kleinen Schwester, den Parisbesuch des Onkels aus Brasilien mit seiner wunderschönen zweiten Ehefrau, die furchtbar nett war, sehr viel netter als ihre Vorgängerin (und mindestens genauso schön) …
    Der Ort war ein russisches Restaurant.
Chez Dominique
, in der Rue Bréa, Nummer 19.
    Vom Hinterzimmer drangen dort immer Fetzen von lauten Wortgefechten bis zu uns, dann plötzlich Lieder, dann wieder Wortgefechte.
    Â«Wer sind diese lauten Leute?», fragten wir.
    Â«Weiße Russen.»
    Â«Was sind weiße Russen?»
    Â«Exilanten. Sie haben ihre Heimat verlassen.»
    Â«Glaubt ihr, sie kehren eines Tages wieder in ihre Heimat zurück?»
    Â«Bestimmt nicht.»
    Â«Dann sind es also Gespenster?»
    Â«Wenn ihr so wollt, Kinder. Aber stopft euch doch nicht so mit Brot voll!»
    Warum feierten wir unsere Feste in einem Gespenster-Restaurant? Warum gingen wir immer und immer wieder zum Abendessen zu
Dominique
?
    Mein Bruder hatte schon lange alles verstanden.
    Â«Hast du es noch nicht bemerkt? In diesem Gespenster-Restaurant, meinen unsere Eltern, bleibe ihr eigenes Gespenst unbemerkt.»
    Â«Was für ein Gespenst?»
    Â«Das Gespenst ihrer Liebe, du
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