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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Todesvorrat an. Ist doch beruhigend für unsere Liebe, oder?»

 
    Â 
    Â«Woran krankt es eigentlich bei dir?», fragte der jüngere Bruder den älteren eines Dienstags bei
Dominique
. «Warum bist du so unstet, woher kommt diese Sucht nach der Trennung? Und dein Heißhunger, dieser unerträgliche Heißhunger?»
    Der Ältere ließ es sich anmerken, dass er getroffen war. Er bestellte bei Dimitri, dem alten Kellner, noch eine Auberginencreme, das Einzige, was er sich leisten konnte.
    Sein Bruder ließ ihn nicht entkommen.
    Â«Warum drängt es dich immer und immer wieder anderswohin?»
    Um sich Mut zu machen, verschlang der Ältere hintereinander weg drei Löffel von dem schimmernden, grünen Mus (der berühmten Creme) und schüttete einen großen Schluck gelben, mit Mariengras parfümierten Wodka hinterher.
    Â«Ich glaube, das kommt alles von den Chansons.»
    Dann legte er vor seinem kleinen Psychiater-Bruder, der ihn immer entgeisterter anstarrte, seine Theorie von der Chansonkrankheit dar.
    Â«Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, wie du dir denken kannst.»
    Â«Ich denke nicht, ich höre dir zu.»
    Dem älteren Bruder zufolge hatten die Chansons, die Passion der Familie für diese Lieder eine zersetzende Wirkung auf die Struktur seiner Seele gehabt.
    Â«Sieh an! Und warum?»
    Â«Erstens, weil das Chanson, das von Natur aus kurzist, unserer Lust an der Erneuerung, am Neubeginn und an der Mannigfaltigkeit um jeden Preis schmeichelt. Eine Geschichte folgt der anderen. Für Langeweile ist keine Zeit. Stimmst du mir zu?»
    Â«Zugegeben.»
    Â«Zweitens, und das folgt logisch aus dem ersten Grund, flößt uns das Chanson Abscheu ein vor allem, was sich in die Länge zieht, ja für alles Dauerhafte. Kannst du mir noch folgen?»
    Â«Ich fürchte, ja.»
    Â«Drittens und letztens, und das ist das Schlimmste: Wenn man zu viel Chansons hört, führt das bei bestimmten schwachen Persönlichkeiten zu einer
Verlagerung
des Glücks.»
    Â«Was hast du sonst noch an Entschuldigungen vorzubringen?»
    Â«Hör mal zu. Für einen normalen Menschen wie dich zum Beispiel liegt das Glück im Leben, im Leben selbst, in der gelebten Gegenwart. Oder täusche ich mich?»
    Â«Und weiter?»
    Â«Bei einem besessenen Chansonhörer, also bei einem Kranken wie mir zum Beispiel, zieht sich das Glück aus dem Leben zurück. Es liegt nur noch in der Erinnerung an das Leben. Hast du schon mal ein glückliches Chanson gehört? Alle Chansons sind nostalgisch.»
    Statt mir die Wange zu streicheln, mich in die Arme zu schließen oder mir noch einen Wodka zu spendieren, wie es jeder x-beliebige ein wenig mitfühlende Bruder getan hätte, stand der meine auf und ließ mich auf meiner schmutzigen roten Bank sitzen.
    Â«Ich fürchte, ich kann wirklich nichts für dich tun.»

 
    Â 
    In dieser Welt voller Neurosen, manischer Theorien und leidenschaftlicher Liebesverhältnisse (von denen die einen Stückwerk und die anderen einzigartig waren) ging an einem schönen Novembertag die Sonne auf.
    Völlig unerwartet betrat die Sonne an einem Donnerstag das Restaurant
Erawan
in der Rue de la Fédération, Nummer 76. In diesem Augenblick spürte der ältere Bruder in seinem Innersten die nur allzu bekannten Schauer, die ankündigten, dass sich das Karussell wieder zu drehen begann, mit jener verrückten, bereits beschriebenen Mechanik.
    Damals lebte ich nach zu vielen Reisen und zu vielen Verpflichtungen allein. Meine beiden Kinder wachten über mich. Ängstlich und mit peinlichem Ernst. Wie man einen Süchtigen betreut. Sie waren erwachsen geworden und kannten mich in- und auswendig. Sie stammten aus meiner einzigen glücklichen Zeit, meiner einzigen dauerhaften Liebesbeziehung.
    Â«Wie wäre es, Papa, wenn du einmal aufhören würdest?»
    Â«Wenn du einfach mal nicht mehr alles wolltest? In dem Alter, in das du kommst, machst du dich lächerlich.»
    Ich gab ihnen natürlich recht, aber wie sollte ich es anstellen? Sie hatten eine Antwort parat. Eine Überzeugung, die bereits ihre Mutter vertreten hatte. In jener einzigen glücklichen Zeit schrieb ich einen dicken, sehr dicken Roman. Ständig fragte sie mich, wie ich damit vorankäme.
    Â«Wie viele Seiten sind es noch?»
    Â«Mindestens dreihundert.»
    Â«Da bin ich aber froh.»
    Sie hatte einen einfachen
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