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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Doch nie, bevor sie ihr Herz ausgeschüttet hatte.
    Ich habe es erst später begriffen. Sie trainierte. Sie war Sportlerin gewesen. Hatte am Hochleistungssport geschnuppert (im 400-Meter-Lauf). Sie wusste, untrainiert war der Körper nur die Hälfte wert. Sie wusste, dass Training Willen voraussetzt, einen erbitterten Willen, aber auch Gelöstheit. Wo war im Willen Platz für Gelöstheit? Wie konnte man in der Gelöstheit den Willen niemals vergessen? Monatelang hatte sie sich widersetzt. «Es ist nicht gerecht.» «Es ist einfach nicht gerecht.»
    Eines Morgens dann der plötzliche Wandel.
    Â«Ich hab’s kapiert. Ich muss hier weg. Ich ziehe um.»
    Die Ärzte dachten, sie wolle das Krankenhaus wechseln. Sie waren vor den Kopf gestoßen.
    Â«Fühlen Sie sich bei uns nicht gut aufgehoben?» «Woanders sind aber keine Betten frei.»
    Auch wir sind ihr auf den Leim gegangen. Und so brachten wir sie in den Westen. Hier konnte sie sehr viel besser trainieren, sich auf den Auszug vorbereiten. Wie soll man auch in einem mit Lackfarbe gestrichenen,mit Kunstleder verkleideten Flur für den Auszug trainieren?
    Die Spaziergänge waren ihr Training. Sie trainierte für ihr neues Land. Sie trainierte dafür, ihren Körper zu verlassen. Sie trainierte für eine andere Sprache. Vielleicht dachte sie, in dem neuen Land, in das sie gehen würde, spreche man Spanisch?
    Sie trainierte dafür, ein Gespenst zu werden.

    Â«Ich bitte Sie, Monsieur!»
    Als ich das letzte Mal mit ihr sprach, zählte die Zeit. Die beiden Sanitäter, der Fahrer des Krankenwagens und sein Begleiter, warteten ungeduldig.
    Â«Sie sind nicht der Einzige auf der Welt!»
    Ich hatte ihre Hilfe abgelehnt. Ich hatte sie aus dem Bett gehoben. Sie war leicht, so leicht. Ich wollte sie ein wenig herumtragen, ihr den Garten zeigen, sie ein letztes Mal den Duft der Linden schnuppern lassen. Ich stellte mir vor, dass ihre Nase in den kommenden Stunden, Monaten, Jahren nicht besonders beglückt würde. Der Schein des Blaulichts strich immer wieder über die Akazie, als hätte sie es ihm angetan.
    Die beiden Fahrer murrten:
    Â«Soll sie noch heute ins Krankenhaus oder erst morgen?» «Wenn Sie sie hierbehalten wollen, hätten Sie nicht anrufen müssen!»
    Logisch.
    Ich gab ihnen ein Zeichen, dass ich gleich käme. Und genau in diesem Augenblick, als ich sie zur Trage zurücktrug,konnte ich mit ihr sprechen. Zwei Sätze, zwei lange Sätze vielleicht, aber nur zwei. Wie gesagt, die Zeit zählte.
    Zuerst habe ich sie beglückwünscht. Bravo, mein Liebling, so leicht, so federleicht, das Schlimmste hast du hinter dir, man kann sagen, du hast deinen Umzug geschafft, noch eine winzig kleine Anstrengung, dann bist du ein Gespenst, viel Glück in deinem neuen Leben!
    Mit dem zweiten und letzten Satz schlug ich ihr ein Wiedersehen vor. Es war derselbe Vorschlag wie bei unserer ersten Begegnung, der diese unwahrscheinliche Verkettung in Gang gesetzt hatte, die man Liebe nennt. «Wie wäre es, wenn wir zusammen essen gingen, wenn wir uns wiedersähen?» Damals hatte sie nicht zugesagt. Sie war einfach gekommen. Pünktlich. Ins Restaurant
Erawan
, Rue de la Fédération, Nummer 76.
    Wir werden uns wiedersehen, ich schwöre es dir, egal, wohin du gehst.
    Dieses Mal schlug mein Beinahe-Gespenst, meine leichte, federleichte Frau die Augen auf, ich meine, sie öffnete gerade so die Lider, einen Spalt weit. Wahrscheinlich gab es für sie noch viele andere Dinge zu sehen außer meinem breiten, über sie gebeugten Gesicht.
    Bis an mein Lebensende werde ich mich fragen, ob sie mich gehört hat.
    Â«Wir sind so weit, meine Herren.»
    Â«Wird aber auch Zeit.»
    Â«Glauben Sie wirklich, die Sirene ist nötig?»
    Â«Lassen Sie das ruhig unsere Sache sein.»

 
    Â 
    Eines Tages, kurz vor dem letzten Umzug an die Atlantikküste, traf der Mann, der die Sonne liebte, Louise in einem Haufen aus Kleidern, Büchern, Stofftieren und Plakaten von Boy-Groups an.
    Â«Was machst du?»
    Â«Meine Mutter wird sterben.»
    Â«Woher weißt du das?»
    Â«Du glaubst wohl, ich bin doof.»
    Â«Und dann?»
    Â«Ich gehe zu meinem Vater.»
    Â«Du kennst ihn doch kaum.»
    Â«Er ist mein Vater.»
    Einen Moment lang dachte ich, ich wäre blind geworden: Louise hatte das Licht gelöscht, als sie ging.

 
    Â 
    Whisky ist das Gebräu, das
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