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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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ersten Augenblick hinauszögere, seit ich bei Ihrem Anblick ganz leise ausrief, sie ist es, sollte sie so närrisch sein, mich zu wollen, dann ist sie es, deshalb muss ich Ihnen sagen, dass ich noch etwas zu erledigen habe, was aus der Zeit vor Ihnen stammt, dass ich etwas fortführen muss, von dem ich nicht weiß, ob ich es je zu Ende bringen werde, Sie müssen wissen, selbst wenn Sie dann die Flucht ergreifen, was ich gut verstehen könnte, Liebste, Sie müssen wissen, bevor Sie sich auf mich einlassen, dass in mir etwas begraben ist, dass mein Grab aber nicht mit Gras bedeckt ist, wie es Gräber üblicherweise irgendwann einmal sind, sondern noch immer offen steht.
    Ich habe mich immer gefragt, ob Gespenster Briefe öffnen, ob sie Umschläge über Dampf halten, ob sie zwischen die Seiten schlüpfen? Man sollte sich einmal beim Sicherheitsdienst der Post erkundigen.
    Solange ich auf die Antwort warte, die letzten Endes nicht maßgeblich ist, schreibe ich Ihnen, Gespenstern liegt nichts an Indiskretionen, sie kennen uns ohnehin besser als jeder andere, ich wage es, Ihnen zu schreiben, ich habe schon zu lange gewartet.

    Ã–fter als anderswo ballen sich die Wolken an diesem Ende der Welt, der äußersten Westspitze Europas.
    Doch an jenem Tag war der Himmel am Morgen wie leergefegt. Und da ich am Vortag alles geregelt hatte, war ich ganz ruhig: Ich musste nur noch der Bewegung folgen.
    Der Bestatter war ein ehemaliger Fischer, der ein Bestattungsinstitut eröffnet hatte, als die europäischen Fangquoten seinem Gewerbe den Todesstoß versetzt hatten.
    Â«Manche Angehörige wollen den Sarg selbst tragen. Ich rate Ihnen davon ab.»
    Jetzt entfernt sich der Sarg von der Kirche, verlässt das Dorf, geht fort zu einem Feld, zum neuen Friedhof, der dort hinten zwischen den Tomatengewächshäusern liegt, weil auf dem alten kein Platz mehr ist. Eine große, helle Holzkiste auf den Schultern von vier Angestellten im Sonntagsstaat.
    Vier – das ist genau die Anzahl der Männer, die sie geliebt haben. Beim ersten, dem allerersten, war sie fünfzehn Jahre alt, er einundzwanzig. Er wartete einfach vor dem Schultor auf sie, mit einer Zigarette in der Hand, auf seiner Triumph. Der zweite, ihr Ehemann und Louises Vater, war ein Riese und Lehrer aus Leidenschaft. Sie hatten sich in einem Zirkus kennengelernt, bei dem er als Lehrer unterrichtete. Nicht in irgendeinem Zirkus, es war der Cirque Arlette Gruss gewesen. Der dritte Mann, eine lange und qualvolle Leidenschaft, hatte Frau und Kinder. Der vierte und letzte war ich, der ich versucht hatte, ihr Frieden zu schenken, vergeblich.
    Und jetzt marschieren alle vier unter diesem blauen Himmel, versprengt in der kleinen Schar.
    Gelobt sei der Rat des Bestatters, den Sarg von Sargträgern tragen zu lassen. Wie soll man im Übrigen zu viert einen Sarg tragen, wenn einer der vier ein Riese ist?
    Der Weg ist weit. Wegen der Tomatengewächshäuser, die die Landschaft überziehen, hat es für den neuen Friedhof offenbar kein Grundstück gegeben, das näher an der Kirche lag. Auf See sorgt der Wind für Kühlung. Doch an Land haben die Männer ihre Jacken ausgezogen. Der Sarg glänzt unter der Sonne. Ob Madame Maudez heute Morgen noch einmal gekommen ist, um ihn zu wachsen?
    Der Sarg brennt mir in den Augen. Ich darf mich zurückfallen lassen, nicht wahr? Er kommt auch ohne mich voran.
    Â«Wie unaufmerksam der letzte Gefährte der Toten ist», müssen die Leute denken. «Wie lange waren sie zusammen? Vier Jahre? Bloß vier Jahre? Klar, dann wirft ihn die Trauer nicht gleich um. Ist auch besser so für ihn.»
    Der Bürgermeister ist gekommen, nicht etwa wegen meiner Frau oder ihrer Familie, sondern wegen des neuen Friedhofs. Ein gewissenhafter Repräsentant der Bürgerschaft muss sich vergewissern, ob die neue Einrichtung ihren Zweck erfüllt. Er betrachtet alles, nickt zufrieden mit dem Kopf. Seine Lippen bewegen sich, er rechnet im Kopf, Gesamtfläche, Größe eines Grabs, geteilt durch, schreibe drei, behalte acht, wie viele Tote werden wir hier noch bestatten können? Beim Anblick der Reihe viel zu junger Pappeln (es wird noch lange dauern, bis sie den Toten Schatten spenden) verzieht er kurz den Mund, ein unmerkliches Zucken mit den Schultern, was kann ich dafür, wenn die Dorfgemeinschaft schneller stirbt, als unsere Bäume wachsen? Wieder bewegen sich seine
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