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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Gott den Menschen männlichen Geschlechts geschenkt hat, um ihnen in die Nacht hineinzuhelfen. Für besondere Fälle, für diejenigen, die sich schon immer, von Kindesbeinen an, entsetzlich vor der Dunkelheit gefürchtet haben und deren Qualen im Laufe der Jahre immer furchtbarer werden, hat Gott dem Whisky den Geschmack von Torf beigegeben. Torf ist ein leichter, schwammartiger Stoff, ein Produkt der Zersetzung von Pflanzen unter Luftabschluss. Der Torf nimmt Sie in seine Arme. Er ist wie eine Wiege. Wen der Torf nicht zur Ruhe bringt, der wird niemals Frieden finden.
    An jenem traurigen Abend, dem Vorabend des noch traurigeren Tages, rührte ich mich nicht mehr vom Fleck. In den vergangenen Monaten war ich so viele und so weite Wege gegangen, jedenfalls kam es mir so vor. Zwischen Leben und Tod liegt nur eine kurze Strecke, und dennoch wird so viel Wirbel gemacht, um dem Schicksal zu entkommen. Besuche, zahllose Besuche bei zahllosen Ärzten, alles Spezialisten. Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Spezialisten auf der Welt gibt. Und die Fahrten. Zahllose Fahrten. Vom Krankenhaus nach Hause. Von zu Hause ins Krankenhaus. So viele Kilometer, Stunden, stundenlangen Staus, und so wenig Abstand vom Ende. Warum nur haben Menschen, die eine Verdammte begleiten, den Eindruck, sie durchquerten jeden Tag eine neue Wüste? Wie viele Wüsten gibt es auf diesem Planeten, und warum sind alle diese Wüsten endlos?
    Wie jeden ersten Montag im Monat, ungeachtet allerUmstände, kam am Abend, zwischen fünf nach sieben und halb acht, Madame Maudez, um den Fußboden zu wischen. Ächzend wischte sie über die Eichendielen mit einem glänzenden, gelben Scheuertuch, das sorgfältig um das Ende eines Besenstiels gewickelt war.
    Freunde und Verwandte waren gegangen.
    Â«Können wir dich wirklich allein lassen? Wäre es nicht besser, wenn jemand dabliebe?»
    Am nächsten Tag würden sie wiederkommen: Wir holen dich zum Frühstück im Hafen ab – wann ist noch mal die Trauerfeier?
    Ich rührte mich nicht mehr. Ich brauchte niemanden anzurufen. Meine treuesten Verbündeten kümmerten sich schon um mich. Der wackelige Sessel machte es meinem Hintern bequem, und der torfige Whisky beruhigte meine Seele. Als mich endlich der Schlaf holte, war der Sessel auch meinem Kopf eine Stütze. Freundschaft, wahre Freundschaft, erkennt man bei einem Sessel an seinen allzu anhänglichen Federn, die unter dem Bezug aufragen. Und an seinen Ohren. Die Ohren eines Sessels sind Handflächen, in die müde oder traurige Menschen ihre Stirn legen.
    Pünktlich zur gewohnten Stunde knarrte der Schlüssel von Madame Maudez im Schloss.
    Â«Aber Madame Maudez, das wäre doch nicht nötig gewesen …»
    Â«Lassen Sie mich nur machen.»
    Man muss Madame Maudez immer machen lassen. Madame Maudez kümmert sich um alles. Um die Wäsche, den Einkauf, die Küche, die Einrichtung (leider!) … Madame Maudez würde sich auch um den Tod kümmern.
    Â«Mit dem Tod kenn ich mich aus.» (Gibt es etwas, womit Madame Maudez sich nicht auskennt?)
    Â«Man muss dem Tod seinen Platz geben. Und dann weiterleben.» (Wie alle Menschen, die gerne aufräumen, ist Madame Maudez besessen von der Idee der Gerechtigkeit: Sie gibt jedem Gegenstand den Platz, der ihm gebührt, jedem seinen Platz, aber mehr auch nicht. Wenn ich Madame Maudez eine echte Freude machen wollte, würde ich ihr einen Auftrag besorgen, den Flohmarkt aufzuräumen.)
    Â«Madame Maudez, meinen Sie nicht, das Parkett kann warten?»
    Â«Heben Sie das rechte Bein an. Gut. Und jetzt das linke.» (Madame Maudez antwortet nie auf Fragen. Sie handelt. Und ist dabei ganz Philosophin.)
    Â«Sie haben Glück, dass Sie den Leichnam haben. Ein Toter hat immerhin einen Leichnam. Ein Verschollener nicht mal das. Der Bruder meines Mannes war Fischer. Man hat seine Leiche nie gefunden. Viele Fischer verschwinden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir beim Aufrollen des Teppichs behilflich zu sein? Himmel, er ist so schwer! Und bei Ihnen, wo ist der Leichnam Ihrer Frau jetzt? Früher hätte sie dort geruht, wo Sie jetzt sitzen, im Wohnzimmer. Aber heute … kommen alle ins Leichenhaus! Das ist die Mode. Wegen der Hitze, werden Sie jetzt sagen. Dort kann man sie kühlen. Waren Sie bei Ihrer Frau? Haben Sie ihren Leichnam gesehen? Wie oft?»
    Â«Einmal.»
    Â«Einmal ist kein Mal. Ich sage dazu nur … Sie
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