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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit
Autoren: A Forna
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herausgegeben vom International African Institute. Ein Leinenband mit genähten Kanten, das Papier gelb und körnig unter meinen Fingerspitzen. Ich suchte auf den ersten Seiten nach dem Erscheinungsjahr. 1957 .
    Ich fing an der Stelle an zu lesen, wo das Buch von selbst aufklappte – über die Entwicklung der Stadt: Die dritte Schicht bestand aus Zuwanderern aus den Stammesgebieten, die von den Kreolen als Holzhauer und Wasserträger eingesetzt wurden und sich eine Zeit lang mit ihrem Stand zufriedengaben .
    Ich blätterte eine Seite zurück: Sie nannten sie »unto whom «, in Anspielung auf Psalm 95 : Unto whom I sware … Sodass ich schwur in meinem Zorn: Sie sollen nicht eingehen zu meiner Ruhe!
    An den Rand waren ein paar Worte gekritzelt. Wäre mir die Handschrift nicht so vertraut gewesen, hätte ich Mühe gehabt, sie zu entziffern: Gib mir einen vollen Bauch und eine Hängematte, und ich werde in meine eigene Ruhe eingehen . Julius. Das war eine Angewohnheit von ihm gewesen, typisch für den Mann, geliehene Bücher mit Randbemerkungen zu versehen. Ich klappte das Buch zu, brauchte ein paar Minuten, um meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich lehnte mich über den Schreibtisch und ließ das Buch in den Karton fallen, der neben dem Schreibtisch stand.
    Der nächste Band, den ich herausnahm, war Lethbridge Banburys Buch über Sierra Leone. Also, das war tatsächlich einiges wert. Ein schöner dunkelroter Einband. Auf dem Deckel das goldgeprägte Abbild eines Elefanten und einer Palme. Handgeschnittene Seiten. Schwarz-Weiß-Bildtafeln, jeweils von einem Blatt Transparentpapier geschützt.
    Die ersten Zeilen kann ich noch immer auswendig aufsagen: Warum ich nach S. ging, ist ohne Belang: Vielleicht unternahm ich diesen Schritt aus jenem unstillbaren Wunsch heraus, »die Welt zu sehen«, der viele Engländer so brennend erfüllt; oder vielleicht war ich vom ehrgeizigen Verlangen angetrieben, in einem Dienst Karriere zu machen, in dem der Erfolg nach landläufiger Vorstellung insbesondere denen zuteilwird, die auf der Suche nach ihm die ausgetretenen Pfade verlassen .
    Ein Tutor, der von meiner Liebe zu Büchern wusste, ein Stipendiat einer schottischen Universität, hatte es mir einst geschenkt. Eine Erstausgabe, erschienen 1888 . Sie kam mit der Post ein paar Monate, nachdem er seine Forschungen abgeschlossen hatte und wieder abgereist war. Ich weiß noch, wenn er trank, gab er gern einen hinkenden Reim über einen der letzten Kolonialgouverneure zum Besten.
    Beresford-Stooke, der lässt mich kübeln,
    Und im Protektorat gibt’s nichts als Übeln.
    Ich lachte, um ihn bei Laune zu halten. Und später noch einmal, weil er mich zum Trinken drängte, sich so aufführte, als wäre Nüchternheit, gleich ob auf seiner oder meiner Seite, eine Beleidigung.
    An jenem Januarabend beobachtete ich sie, sie und ihren Mann. Die beiden bewegten sich zwanglos zwischen den Partygästen, nie länger als ein paar Augenblicke allein. Einmal stand ich bei einer Gruppe, außerhalb des Kreises, nicht im Licht, aber gleichzeitig so nah, dass ich hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können. Ihr Mann berichtete von irgendeinem Zwischenfall, alle lachten – alle außer mir. Ich war seinen Worten nicht gefolgt. Stattdessen hatte ich sie angeschaut. Sie angeschaut, während sie ihrerseits ihn anschaute. Einmal trafen sich unsere Augen. Sie lächelte und sah weg.
    Später fiel mir ein, wo ich ihn schon gesehen hatte. Einmal mittags in der Aula, auf einer von den Studenten einberufenen Versammlung, deren Zweck, wie ich mich erinnere, es gewesen war, die Exmatrikulation eines Kommilitonen zu diskutieren. Der Dekan hatte mich hingeschickt, und ich setzte mich ganz nach hinten. Meine Anwesenheit blieb unbemerkt, was mir nur recht war. Ein paar Absätze in die Maschine getippt und in das Postfach des Dekans gelegt. Pflicht erfüllt.
    In den Minuten bevor die Versammlung offiziell eröffnet wurde, sah ich, wie sie sich um ihn scharten, die Studenten, atemlos und gespannt. Eine Weile nach Beginn rief ihn der Versammlungsleiter auf das Podium. Anfangs sträubte er sich, lächelnd und mit einem Blatt Papier wedelnd, als hielte er die bloße Idee für unsinnig. Als das Plenum murmelnd insistierte, erhob er sich, plötzlich voller Energie, sprang aufs Podium und hielt eine kurze Ansprache. Er stand vorgebeugt, einen Ellbogen auf dem Lesepult, und sah direkt in die Gesichter der Anwesenden. Die Luft zitterte vom Schall seiner Stimme.
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