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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit
Autoren: A Forna
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Luft befrachtet mit aschfeinem Staub. Saffia fuhr konzentriert, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Straße gerichtet. Während sie fuhr, betrachtete ich ihre Hände. Sie hielt das Lenkrad an beiden Seiten fest, wie Frauen das so tun. Keinerlei Schmuck, abgesehen von einem goldenen Ehering. Die Nägel waren kurz und wohlgeformt, nicht lackiert. An einem oder zwei Nägeln ihrer rechten Hand bemerkte ich einen dunklen Rand. Gelegentlich gestattete ich mir einen Blick auf ihr Gesicht, das sich im Profil vor dem grellen Fenster abzeichnete. Der Aufwärtsschwung ihrer Wimpern entsprach der Wölbung ihrer Oberlippe. Als sie verlangsamte, um einem Burschen mit einem Handkarren auszuweichen, biss sie sich leicht auf die Unterlippe. Und als sie an einer verkehrsreichen Kreuzung nach links und rechts schaute, fuhr sie sich mit der Zunge flüchtig über die Oberlippe. Spuren von Licht hoben die Kurven ihrer Jochbeine, ihrer Stirn, ihres Nasensattels hervor. Der Ausschnitt ihres Kleids gab ihre Kehle frei, unter den Schlüsselbeinen die Schwellung ihrer Brüste. Auf ihren Oberschenkeln war das Kleid leicht zerknittert, darunter spannten sich die Muskeln, wenn sie die Pedale bediente.
    Rechts von der Straße dehnte sich ein Feuchtgebiet hin, das unter Naturschutz stand. Das gibt es noch immer. Zu feucht, um bebaut zu werden. Damals konnte man von der Straße aus, über das Feuchtgebiet hinweg, bis zum Meer sehen. Ich wandte den Kopf und schaute.
    »Es sollen dort bemerkenswerte Orchideen wachsen«, sagte ich.
    »Sie mögen Blumen?«
    »Ich bin kein Experte«, antwortete ich. »Ich lebe in einer Wohnung, und der Garten gehört nicht mir. Aber ich erfreue mich an ihrem Anblick, wer tut das nicht?«
    »Sumpforchideen. Lissochilus . Die meinen Sie wohl. Sie wachsen dort. Und Sie haben recht, sie sind wirklich bemerkenswert. Sie werden so hoch wie Sie und ich.«
    »Haben Sie schon mal welche gesehen?«
    »Nicht in letzter Zeit. Aber vor ein paar Jahren, ja. Die Gartenbaugesellschaft, deren Mitglied ich bin, hat eine Exkursion veranstaltet. Wenn man erst mal weiß, wo sie wachsen, ist es leicht, sie wiederzufinden. Anfangs ist es das nicht.« Sie verstummte, als sie beschleunigte, um ein langsames Taxi zu überholen, das nach Fahrgästen Ausschau hielt.
    »Ich muss mich bei der Gartenbaugesellschaft erkundigen, ob weitere Exkursionen geplant sind. Vielleicht könnten Sie mir helfen?«
    Möglicherweise würde sie mir anbieten, mich dorthin mitzunehmen. Ich spürte, wie sie zögerte, überlegte, ob sich so etwas gehörte.
    Vorerst sagte sie: »Ich versuche, bei uns zu Hause Orchideen zu ziehen. Keine Lissochilus . Das wäre wahrscheinlich nicht möglich. Viel Glück habe ich nicht gehabt. Aber ich habe einige schöne Amaryllis – Harmattan-Lilien. Sie blühen während der windigen Jahreszeit. Vielleicht könnten Sie einmal abends mit Julius vorbeikommen.«
    »Danke«, sagte ich. Obwohl ihre Worte nicht ganz als Einladung zu werten waren.
    Minuten später hielten wir vor der Fakultät. Ich stieg aus dem Wagen aus und lehnte mich durch das offene Fenster, um ihr zu danken. Sie nickte und schenkte mir den Anflug eines Lächelns, das sich plötzlich und unvermittelt in einen Ausdruck reiner Freude verwandelte. Im selben Moment, in dem ich ihn erwidern wollte, bemerkte ich, dass sie gar nicht mehr mich ansah. Ich richtete mich auf und wandte den Kopf. Julius.
    In gewisser Weise habe ich Glück. Lange Zeit habe ich das nicht geglaubt. Ich sehnte mich danach, außergewöhnlich zu sein, während ich tatsächlich alles andere als das war. Ich habe eins von diesen Gesichtern, die wie jedes andere aussehen. Mit dem Alter, könnte man sagen, habe ich eine gewisse Individualität erlangt. Das Haar. Aber während des größten Teils meines Lebens hatte ich die Art von Gesicht – ganz ehrlich –, die Art von Gesicht, die man sofort wieder vergisst.
    Als ich Julius die Hand gab, sah ich ihm an, dass er sich krampfhaft bemühte, mich einzuordnen. Ebenso wie ich es einst als mein Pech betrachtete, des Erinnerns nicht würdig zu sein, ist es das Pech charismatischerer Menschen, selten vergessen zu werden. Von anderen umgeben, die die Arbeit erledigen, verlieren sie naturgemäß nach und nach die Fähigkeit, sich Namen und Gesichter zu merken. Es war offenkundig, dass Julius diese Situation vertraut war und sie ihn nicht im Mindesten störte. Saffia erklärte, dass wir uns in der Stadt getroffen hatten. Er klopfte mir auf die Schulter; seine Miene verriet
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