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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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nicht, dass Versicherungen heute noch so verkauft wurden. Ihre Vergangenheit schien bereits eine antiquierte Kuriosität – ein virtueller Ort, der vom Museum der Zukunft wiedererschaffen wurde. Wenn ihr Vater seine alte Aktentasche nicht gerade von einer unfreundlichen Türschwelle zur nächsten schleppte, sondern zu Hause war, versank er vor dem Kamin in einem Sessel, verschlang einen Krimi nach dem anderen und trank in Maßen Bier aus einem kleinen Glaskrug. Ihre Mutter Thelma hatte Teilzeit in einer Apotheke am Ort gearbeitet. Dabei trug sie einen knielangen weißen Kittel, dessen medizinische Erscheinung sie mit einem großen Paar vergoldeter Ohrringe mit Perlen kontrastierte. Sie behauptete, dass sie aufgrund ihrer Arbeit in der Apotheke in die intimen Geheimnisse der Leute eingeweiht sei, aber soweit die junge Gloria es beurteilen konnte, verkaufte sie vor allem Einlegesohlen und Watte, und ihre aufregendste Arbeit bestand darin, vor Weihnachten das Schaufenster mit Lametta und Geschenkschachteln von Yardley zu dekorieren.
    Glorias Eltern führten ein langweiliges, freudloses Leben, das auch das Tragen von vergoldeten Ohrringen mit Perlen und das Lesen von Kriminalromanen kaum aufheiterten. Damals ging Gloria davon aus, dass ihr Leben einmal völlig anders verlaufen würde – dass ihr gloriose Dinge widerfahren würden (wie ihr Name implizierte), dass sie innerlich wie äußerlich strahlen und ihr Weg leuchten würde wie der Schweif eines Kometen. So kam es nicht!
    Beryl und Jock, Grahams Eltern, unterschieden sich nicht sonderlich von Glorias Eltern, sie hatten lediglich mehr Geld und standen weiter oben auf der sozialen Leiter, aber sie hatten die gleichen bescheidenen Erwartungen ans Leben. Sie wohnten in einem »Edinburgh Bungalow« in Corstorphine, und Jock besaß ein relativ kleines Bauunternehmen, mit dem er einen anständigen Lebensunterhalt verdiente. Graham selbst hatte ein Jahr Tiefbau in Napier studiert (»eine blödsinnige Zeitverschwendung«), bevor er bei seinem Vater einstieg. Innerhalb eines Jahrzehnts saß er im Besprechungszimmer seines eigenen Großreichs,
Hatter-Häuser – Reelle Häuser für reelle Menschen
. Gloria hatte sich diesen Slogan vor vielen Jahren einfallen lassen und wünschte jetzt inbrünstig, sie hätte es nicht getan.
    Graham und Gloria hatten in Edinburgh und nicht in ihrer Heimatstadt geheiratet (Gloria war als Studentin nach Edinburgh gegangen), und ihre Eltern kamen mit einer günstigen Rückfahrkarte und waren wieder weg, kaum dass die Torte angeschnitten war. Die Torte war eigentlich der Weihnachtskuchen von Grahams Mutter, wurde jedoch hastig für die Hochzeit umfunktioniert.
    Beryl machte ihren Kuchen immer im September und ließ ihn in weiße Tücher gewickelt in der Speisekammer reifen, packte ihn jede Woche vorsichtig aus und begoss ihn mit einem kleinen Gläschen Brandy. An Weihnachten waren die Tücher mahagonifarben gefleckt. Beryl sorgte sich wegen des Kuchens für die Hochzeit, da Weihnachten noch weit entfernt war (die Hochzeit fand Ende Oktober statt), aber sie setzte eine entschlossene Miene auf, verzierte ihn wie gewöhnlich mit Marzipan und Zuckerguss, und statt des Schneemanns steckte sie ein Brautpaar aus Plastik in die Mitte, das in einem nicht überzeugenden Walzertakt erstarrt war. Alle nahmen an, dass Gloria schwanger sei (sie war es nicht), als wäre das der einzige Grund, warum Graham sie heiratete.
    Vielleicht hatte ihre Entscheidung, nur standesamtlich zu heiraten, ihre Eltern aus dem Gleichgewicht gebracht. »Wir sind keine Christen, Gloria«, hatte Graham gesagt, was auch stimmte. Graham war ein aggressiver Atheist, und Gloria – geboren ein Viertel Leeds’sches Judentum, ein Viertel irisch-katholisch und aufgewachsen als West-Yorkshire-Baptistin – war eine passive Agnostikerin, obschon sie in Ermangelung von etwas Besserem »Kirche von Schottland« auf das Aufnahmeformular des Krankenhauses geschrieben hatte, als sie sich zwei Jahre zuvor an einem entzündeten Fußballen hatte operieren lassen, privat in Murrayfield. Wenn sie sich überhaupt eine Vorstellung von Gott machte, dann als vages Wesen, das hinter ihrer linken Schulter herumflatterte wie ein nörgelnder Papagei.
    Vor langer Zeit hatte Gloria auf einem Barhocker in einer Kneipe auf der George IV Bridge in Edinburgh gesessen, einen (so unglaublich es jetzt auch schien) gewagt kurzen Minirock getragen, unsicher eine Embassy geraucht, einen Gin mit Orangensaft getrunken
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